: Neugeborene als lebende Organbanken
■ Für Säuglinge ohne Großhirn fordern US-Mediziner eine Sonderregelung
Um den Mangel an transplantierbaren Organen zu beheben, fordern amerikanische Ärzte und Ethiker eine Aufweichung des Hirntod-Konzeptes. Für Neugeborene, die ohne Großhirn auf die Welt kommen, sogenannte anenzephale Kinder, müsse eine gesetzliche Sonderregelung geschaffen werden: Eine Organentnahme soll auch dann erlaubt sein, wenn das Gehirn noch aktiv ist. Mit diesem Vorschlag ist jetzt das Ethik-Komitee des US-Ärzteverbandes American Medical Association (AMA) an die Öffentlichkeit gegangen.
Nach der derzeitigen Regelung in den USA ist die Voraussetzung für eine Organentnahme der vollständige Ausfall aller Hirnfunktionen. Anenzephale Kinder werden zwar ohne Großhirn geboren, das Stammhirn jedoch, das die Atmung und den Kreislauf regelt, ist noch vorhanden. Diese Kinder, die nur eine Lebenserwartung von Stunden oder wenigen Tagen haben, erfüllen somit nicht die Voraussetzungen für den Hirntod.
Für den Ethiker George Annas von der Boston University School of Medicine ist die Forderung des AMA-Komitees eine „entsetzliche Idee“. Gegenüber der New York Times hob er hervor: „Anenzephale Kinder sind lebende Menschen, sie sind extrem behindert, aber sie sind lebendige Wesen.“ Er befürchtet, daß jetzt die Diskussion eröffnet wird, auch lebende Menschen als Organspender nehmen zu dürfen. Demgegenüber rechtfertigt der Vorsitzende des neunköpfigen Ethik-Komitees, John Glasson, den Beschluß damit, daß durch den Tod der großhirnlosen Babys das Leben anderer Kinder gerettet werden könne. In Anlehnung an die Thesen des australischen Bioethikers Peter Singer gesteht er den anenzephalen Kindern kein Lebensrecht zu, sie sollen sterben für das Wohl eines anderen: Sie seien nicht lebensfähig und hätten „keinerlei Wahrnehmungen, weder Empfindungen noch Gefühle“.
Mit ähnlichen Argumenten versuchten auch einige Organtransplanteure zu erreichen, daß in dem geplanten deutschen Transplantationsgesetz eine Sonderregelung für anenzephale Kinder aufgenommen wird. So sollen 1992, da nur acht „Organspenden“ für Neugeborene zur Verfügung standen, hundert bis zweihundert Kinder gestorben sein. In dem vom Gesundheitsministerium erarbeiteten Gesetzentwurf ist als Voraussetzung für eine Organentnahme der endgültige „Stillstand von Herz, Kreislauf und Atmung“ oder – der auch bei Medizinern umstrittene – Hirntod vorgesehen. Da transplantierbare Organe noch lebensfrisch entnommen werden müssen, damit sie verwendet werden können, würde eine freizügigere Regelung vielen Transplanteuren entgegenkommen. Wolfgang Löhr
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