: Arm, aber auch redegewandt
■ Der Aufschwung der Bürgerinitiativen hat die soziale Ungerechtigkeit in Brasilien nicht verändert / Entwicklungsprojekte kollidieren mit der Landfrage
São Luis (taz) – Für die Tagelöhnerin Querubina da Silva hat sich nach sieben Jahren Einsatz für die Landgewerkschaft in der nordostbrasilianischen Stadt Imperatriz wenig verändert. Zwar hat sie ein kleines Stück Land besetzt, mit dessen Ertrag sie ihre Familie ernährt, doch ohne gültige Papiere kann sie jederzeit von ihrer Scholle vertrieben werden. Vor einem halben Jahr gründete die 49jährige zusammen mit 70 Kleinbauern eine Kooperative, um bei der öffentlichen Bank „Banco do Nordeste“ eine Saatgutfinanzierung in Höhe von umgerechnet 4.000 Mark zu erhalten. Bis jetzt hat sie nichts bekommen. Nun sitzt sie in der Küstenstadt São Luis Vertretern des des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) gegenüber und wundert sich. „Diese Leute leben auf einem völlig anderen Niveau. Ob Gott wohl diese Unterschiede gewollt hat?“
Rund hundert Brasilianer und Deutsche nahmen vor einer Woche an einem internationalen runden Tisch in São Luis teil. Das von der „Gemeinsamen Konferenz Kirche und Entwicklung“ (GKKE) veranstaltete Treffen befaßte sich mit der Zukunft des brasilianischen Amazonas-Gebietes Carajas. Hier liegt einerseits genug Eisenerz für 500 Jahre Förderung, andererseits herrschen auch extreme soziale Ungleichheiten. Der Dialog ist schwierig. „Wir können keine Petition unterschreiben, in der die Enteignung bestimmter Landstriche gefordert wird“, beschreibt Prälat Norbert Herkenrath, Vorsitzender der deutschen Hilfsorganisation Misereor, das Dilemma der deutschen Delegation aus Bundestagsabgeordneten, Kirchen- und Regierungsvertretern.
Brasiliens Bürgerbewegung blüht. Ob Indianerorganisationen aus dem Amazonas, Landarbeitergewerkschaften aus dem Nordosten oder Nachfahren entlaufener Sklaven – immer mehr Brasilianer schließen sich zusammen, um ihre auf dem Papier verankerten Rechte auch in die Praxis umzusetzen. Doch die Fähigkeit benachteiligter Brasilianer, ihre Probleme zu artikulieren, führt nicht unbedingt zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen. „Die Leute können ihr Elend jetzt besser ausdrücken“, bilanziert Marlis Weissenborn, Vertreterin der deutschen „Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit“ (GTZ) in Brasilien.
„Brasilien ist zwar ein demokratisches Land, zumindest was das Wahlrecht anbelangt, aber die Strukturen des Großgrundbesitzes haben sich überhaupt nicht verändert“, beobachtet Wolfgang Kreissl-Doerfler, Mitglied der grünen Fraktion des Europaparlaments. Statt mit brutaler Unterdrückung wie während der Militärdiktatur in den Jahren zwischen 1964 und 1985 verteidigten die Großgrundbesitzer nun ihre Interessen mit dem Einsatz von Profikillern.
Von der extremen Armut der nordostbrasilianischen Kleinbauern überzeugten sich vier Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90/ Die Grünen, SPD und CDU durch einen Besuch im Eisenerz-Minengebiet, wo wohlsituierte Mitarbeiter des staatlichen Bergbaukonzerns „Compania do Vale do Rio Doce“ (CVRD), Leiharbeiter und Kleinbauern auf engem Raum zusammenleben. „Es ist wichtig zu sehen, was es heißt, in einer Lehmhütte zu wohnen, ohne Strom, ohne Erziehung für die Kinder, ohne genug zu Essen zu haben und jeden Tag acht Kilometer laufen zu müssen, um dann zu dem kleinen Feld zu kommen, das einem der Großgrundbesitzer gerade noch eingeräumt hat“, schildert der Grüne Kreissl-Doerfler seine Reiseeindrücke.
An der extremen Konzentration von Grund und Boden wird sich trotz der zunehmenden Organisationsfähigkeit der Kleinbauern in der Region Carajas kaum etwas ändern. Nach einer im April dieses Jahres veröffentlichten Studie des brasilianischen Theologen Claudio Moser über die Weltmarktintegration des Amazonas-Gebietes hängt der Erfolg des Carajas-Bergbaus unmittelbar von einem effizienten Agrobusineß ab. Um die 890 Kilometer lange Bahnstrecke von der Eisenerzmine „Carajas“ bis zur Hafenstadt São Luis optimal auszulasten, sollen in Zukunft nicht nur Eisenerz, Roheisen und Aluminium, sondern verstärkt auch Zellstoff und Soja über den Export-Korridor transportiert werden. Die Einrichtung riesiger Eukalyptusplantagen zur Herstellung von Zellulose wird angesichts des weltweiten Papiermangels als besonders zukunftsträchtig gewertet. Nach Angaben der brasilianischen Regierung sollen deshalb bis 1999 dafür weitere 3,7 Milliarden Dollar investiert werden.
Die offiziell von der brasilianischen Regierung vor zehn Jahren begonnene „Agrarreform“ bewegt sich in wesentlich bescheideneren Dimensionen: Seit 1985 wurden tröpfchenweise 13 Millionen Hektar Land enteignet und an 265.000 kleinbäuerliche Familien verteilt – in einem Land mit 130 Millionen Menschen. Nach wie vor kontrollieren 1,2 Prozent der Landbesitzer die Hälfte der landwirtschaftlichen Nutzfläche. Ein Heer von Landlosen, das nach offiziellen Angaben etwa eine Million Menschen umfaßt, kampiert unter Plastikplanen an Brasiliens Straßenrändern.
Der neue sozialdemokratische Präsident Fernando Henrique Cardoso, der seit Jahresbeginn amtiert, will mit der Ansiedlung von 280.000 Familien in den kommenden vier Jahren einen weiteren Schritt zur Armutsbekämpfung leisten.
„Bei Entwicklungsprojekten stößt man immer wieder auf die Landfrage“, bestätigt Herbert Reufels vom Deutschen Entwicklungsdienst (ded). Ein von ihm vorgeschlagenes Projekt zur Unterstützung von Verarbeiterinnen der Nüsse der Babacu-Palme, die in den nordostbrasilianischen Bundesstaaten Maranhao und Para vorkommt und aus der unter anderem wertvolles Palmöl herausgepreßt wird, scheiterte just daran. Die extreme Härte der Nußschale hat bis jetzt eine industrielle Nutzung der Babacu-Palme verhindert; doch die Landbevölkerung weiß seit langem diese Baumart zu nutzen.
„Das Projekt las sich wie ein Traum: Frauenförderung, Armutsbekämpfung und nachhaltiges Wirtschaften“, erinnert sich der ded-Vertreter. Doch, erklärt er, „die meisten Palmen befinden sich auf Privatbesitz“. Die Großgrundbesitzer zögen es vor, die Bäume abzubrennen, um sich vor Invasionen Landloser zu schützen, als sie wirtschaftlich zu nutzen. Astrid Prange
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