: Die Kraft der schwer Gekränkten
Unverbesserlich: Inge Meysel, die Mutter der Nation, wird heute 85Jahre alt ■ Von Viola Roggenkamp
Was tun, wenn Mutter 85 wird? Welche Tochter – Söhne kommen ja immer mit einem flüchtigen Wangenkuß durch – fühlt sich diesem Ereignis gewachsen? Die Chance, daß sie es Mutter irgendwie doch wieder nicht recht machen kann, ist groß. Was aber erst, wenn die Mutter der Nation...? Fassen wir uns und sammeln alle Kräfte: Heute wird Inge Meysel 85 Jahre alt.
Sie sei überhaupt kein mütterlicher Typ, sagt sie bei jeder Gelegenheit – mit heiserer Stimme und langem Üüü auf dem Ypsilon. Deshalb ja! Eine Mutter, wie Töchter sie auf Anhieb wiedererkennen. Nie so werden wollen! Womöglich schon so sein? Furchtbar gut, furchtbar besser, unverbesserlich. Inge Meysel hat diese Mutter hundertfach gezeigt. Nicht erst im Fernsehen. Aber da auch. Auf den besten Bühnen Deutschlands, vorwiegend in Berlin und Hamburg, hat sie in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren gestanden. Eine ihrer Glanzrollen war die Mutter Wolffen in Gerhart Hauptmanns „Biberpelz“. Eine Rolle, die für sie geschrieben zu sein schien. Auf ihr bauten sich alle folgenden Mutter-Rollen auf. Auch die Käthe Scholz in der Fernsehserie „Die Unverbesserlichen“ von Robert Stromberger.
Eine Mutter, die um sich selbst kreist und kreißt. Immer diese Mutter, die kämpft mit der Kraft der schwer Gekränkten. Bis von dem Recht, das sie hat, kaum noch etwas übrigbleibt. Bis sie im Unrecht ist. Endlich und völlig zu Unrecht.
Eine Frau, vernichtend für die anderen, die sich ihr entgegenstellen, und darum einsam. Sie ist nicht die Mutter, die es immer nur gut gemeint hat. Sie weiß. Wie es geht. Wie es sein muß. Wie es richtig ist. Alles. Sie will machen. Und nicht etwa bloß aus Liebe. Aus einem inneren Wissen um Ungerechtigkeit. Zu einer solchen Mutter gehört der leider nie genügende Mann, mehr noch: Männer. Inge Meysel ist in ihren Mutterrollen immer auch die verführende Frau – vorzugsweise gegenüber ihren Söhnen, Schwiegersöhnen und inzwischen Enkeln.
Sie kommt aus dem Fach des kessen Mädchens und der Salondame, wie attraktive Frauenrollen damals genannt wurden, in Stücken von Tennessee Williams, von Victorien Sardou, von Oscar Wilde und Carl Zuckmayer. „Fräulein Frau“ war ihr erster großer Bühnenerfolg. Inge Meysel in der Titelrolle, am Berliner Renaissance-Theater. Sie war 22, die Kritik prophezeite ihr eine große Karriere. Drei Jahre später, 1935: Auftrittsverbot für den „Mischling ersten Grades“, die Halbjüdin Inge Meysel. Die KollegInnen wandten sich von ihr ab. Es war das Ende. Wie lange würde es dauern? Für immer? Zwei, drei Jahre? Und was würde noch kommen?
Inge Meysels Mutter war Dänin und 18 Jahre alt, als Tochter Ingeborg in Berlin 1910 geboren wurde. Warum nicht in Dänemark? Weil sich die Mutter in einen Berliner Juden verliebt hatte: Julius Meysel. Der war schon 19 und sofort Vater geworden. Inge hatte ein Junge werden und Johnny heißen sollen. Na. Nun war sie da und überspielte das fehlende Teilchen mit Bravour: „Ich war mein ganzes Leben lang ein Sohn“, schreibt sie in ihrem Buch „Frei heraus – mein Leben“ (Heyne). Anfangs in blauer Babywäsche und mit einem blauen J für den Johnny, der sie nicht war, auf ihrem Löffelchen, auf ihrem Becherchen und auf ihrer Breischüssel. Fünf Jahre später „wurde mein Bruder – es war also wirklich ein Junge! – geboren“. Sie hat nie mit Puppen gespielt. „Ich habe Puppen zerlegt.“
Sie überlebte es. 1945 lag Deutschland am Boden. Ihre Eltern, ihr Bruder überlebten es. Inge Meysel nicht zuletzt mit Hilfe ihres ersten Mannes Helmut Rudolph. Die Nazis überlebten es auch; jedenfalls die meisten.
Sie gehört in dieses Land. Die Sprache ist ihre Sprache. Die Geschichte gehört zu ihrer Geschichte. Ab 1946 sprach man wieder von ihr und hörte nicht auf, von ihr zu sprechen, der beliebtesten deutschen Nachkriegsschauspielerin. Inge Meysel jüdisch? Das war doch jetzt nicht mehr wichtig. Gott sei Dank. Lieber gleich wieder vergessen.
Die Befreiung erlebte sie in Hamburg – und verliebte sich. Der englische Theateroffizier und Regisseur Major John Olden wurde ihr zweiter Mann. Spielen, spielen, spielen. Arbeiten dürfen, arbeiten können. Und Erfolg haben. Eigene Kinder? Hätten sie nur aufgehalten.
Im Thalia Theater war sie zu Hause. Hörspiele kamen hinzu. Vereinzelt Spielfilme. Es waren gar nicht immer Hauptrollen. Aber immer Charaktere. Das Fernsehen rückte sie ins Zentrum, machte sie zur Nummer eins am Küchentisch, am Wohnzimmertisch, am Nachttisch. Bald hatte in nahezu jeder westdeutschen Familie Inge Meysel das letzte Wort. 1969 plädierte sie in Wahlanzeigen für Willy Brandt als Kanzler. Und so kam es. 1978 klagte sie gemeinsam mit Alice Schwarzer und anderen Frauen „gegen die Darstellung von Frauen als Sexobjekt“ am Beispiel der Illustrierten Stern. Das sollte verboten werden. Doch so kam es nicht. Gewinnen ist eine Sache, verlieren eine andere. Kämpfen ist ihre Sache. Manchmal an Fronten, an denen sie gar nicht soviel zu suchen hat: Die Mutter der Nation sei lesbisch, meldete Bild brav, nachdem sie sich 1992 selbst geoutet hatte, mit einer ersten Liebe aus Jugendtagen. Niemand regte sich auf. Das Bundesverdienstkreuz wollte ihr 1981 der damalige Bundespräsident und ehemalige Nationalsozialist Karl Carstens anhängen. Sie lehnte ab. Das freute viele. Welche Geburtstagsüberraschung wird diesmal aus Bonn kommen? Von hier jedenfalls: Massl un Broche!
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