: Ein Stück vom Henkersstrick
■ Bremer Buchlese: Ulrich Reineking- Drügemöller über Jürgen Alberts' „Der Anarchist von Chicago“
Wenn wir anarchistischen Gotteskinder ein Buch über Anarchismus lesen, bereiten wir uns darauf angemessen vor. Da muß ein eisgekühltes Bier auf den Nachttisch, das Bettzeug wird zu einer Textilwurst als Nackenstütze gerollt, wie es kein Futonmacher dieser Welt je zustande brächte und auf dem verschmierten Cassettenrecorder spielen wir wahlweise Black Flag oder die Titelmusik von Sacco und Vanzetti oder auch Leo Ferre.
Dazu eine Schachtel Pralinen, der Vorbelastete wählt die PEA-Diätmischung und fragt sich, ob das vielleicht die Abkürzung von Proletaria Espanjoll Anarcista sein könnte, was wir irgendwie für einen spanischen Esperanto-Dialekt halten.
Bitte halten sie sich ansatzweise an diese Empfehlung zur richtigen Lektüre des Romans „Der Anarchist von Chicago“, den Bremens Borsalino-Romancier, Krimi-Autor und Historienmaler Jürgen Alberts jetzt bei Rowohlt vorlegt, gebunden natürlich, weil als Paperback kaum eine Alternative zum handlichen Pflasterstein, mit dem wir dem altbösen Feind unsere Nierensteine wirkungsvoll vor den Kopf rollen können.
Mitten hinein in die Reihen der Bullizei wurde auf einer Syndikalistenkundgebung am 4. Mai 1886 auf dem Haymarket in Chicago eine Bombe geworfen, worauf die attackierten Law & Order-Boys die für einen Achtstundentag und menschenwürdige Lebensbedingungen demonstrierenden Arbeiter mit unzähligen Salven auseinander- und vor allem auch zusammenschossen. Flugs wurden die für solche Fälle vorgesehenen Verdächtigen inhaftiert und gehängt: Ihre relative Unschuld wurde später festgestellt und das Todesurteil nachträglich aufgehoben. Dumm gelaufen, sagt man heute wohl. Und der gehängte Anarchist Albert Parsons hinterließ dem Volke in Gottes eigenem Land diesen schönen Satz:„Mein lieber Kamerad, hier sende ich dir ein Stück vom Henkerstrick als Emblem unseres Kapitalismus und der christlichen Zivilisation. Den Knoten habe ich selbst geknüpft, ganz wie es hier üblich ist. Ich übergebe ihn Dir als Gedenkzeichen unserer Zeit“.
Über die wahren Täter und deren Hintermänner wird bis heute spekuliert. Ich persönlich glaube, daß sie irgendwo im Bundeskriminalamt oder in Pullach bei München in einer Tiefkühltruhe ruhen, und bei Bedarf wieder aufgetaut werden. Anders sieht dies Kamerad Alberts, der eine schillernde Täterfigur entwickelt. Dies gibt dem belesenen Geschichtslehrer in ihm reichlich Gelegenheit, an der Entwicklung eines Individuums all die Theorien der revolutionären Aufsässigkeit darzulegen, die im 19. Jahrhundert als widerspenstige Gespenster durch die Alte und Neue Welt jagen. Wir schätzen dieses Vorgehen mit großer bis größter Sympathie als aufrichtiges Bemühen, dies längst verschüttete Menschenwissen um so gutgläubige Begriffe wie Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität mit ihrer verrückten Radikalität wieder auf den Sockel der Verehrungswürdigkeit zu setzen: Nötig hat dies eine Zeit, die jedes poststrukturalistische Darmwinden höher schätzt als die denunzierte Political Correctness des bleibenden Kampfes zwischen Unten und Oben, Himmel und Hölle, Arm und Reich. Dafür, Kandidat Alberts, schon mal 1000 Punkte und ein Plätzchen im Weinfaß zu den Lotosfüßen des Fürsten Kropotkin.
Wie dieser suchende Romanheld Karl Schasler alias Franz Weissenbach auf seinem Fluchtweg durchs Leben schließlich das Priestergewand als Verkleidung anzieht, daraus aber die visionäre Kraft eines Wegweisers in anarchistische Verheißung bezieht, macht der Autor ohne jede Peinlichkeit rigoroser Aufopferung deutlich. Sein Buch läßt uns teilhaben am Reichtum eines Lebens ohne Hoffnungslosigkeit, versöhnt uns auch mit der Nische, die der Gejagte schließlich in der Camouflage eines Devotionalienhandels sucht und findet. Die Insel der Ruhe wird ihm nach kurzem Aufatmen zur Bombenwerkstatt, aus der heraus er dann sinnstiftend am Haymarket attentätert. Selbst der Triumph der edelmütigen Rettung der Inhaftierten, aber auch sein freimütiges Geständnis bleibt versagt: Da die Polizei sein verwirrendes Versteckspiel nicht durchschauen kann und will, wird ihm das Copyright am Bombenwurf kurzerhand abgesprochen und somit die Last der Verantwortung für Justizmord auf seine Schulterm gelegt.
Hätte Detlev Buck gerade Zeit und Geld für einen neuen Film: Hier wäre eine Drehbuchvorlage von praller Kraft. Das sehen wir fest auf dem Boden des Anarchismus Stehenden nun einmal völlig anders als der libertärophile Schreibknecht des FAZ-Feuilletons, der in seiner Rezension unkelt: „Im Wettstreit von res fictae und res factae kann geschehen, daß die Einbildungskraft des Romanautors gegenüber den Tollheiten der Geschichte geradezu bläßlich wirkt.“
Angesichts unserer entspannten Spannung bei der Lektüre des 443-Seiten-Wälzers ersparen wir uns jeden Versuch philologischer Beckmesserei und laden dazu die zu sowas Berufenen herzlich ein.
UrDrü
Sein neues Buch „Mediensiff“ stellt Jürgen Alberts am 5.6. von 14-16 Uhr auf dem „Schiff“ vor.
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