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Russische Versager in New York

■ Im Kino: „Vanya - 42. Straße“ von Louis Malle

In seinem Film „Mein Essen mit André“ zeigt Louis Malle die beiden Freunde Wallace Shawn und Andre Gregory fast zwei Studen lang beim Dinieren und Plaudern. In den ersten Bildern seines Films „Vanya – 42. Straße“ begegnet man den beiden wieder – aber jetzt verschlingt Shawn schnell einen Hot Dog am Straßenrand, und Gregory läuft grübelnd über die 42nd Street.

Beide haben Wichtigeres im Sinn als kulinarische Freuden, beide sind auf dem Weg in ein kleines, für die Öffentlichkeit geschlossenes Theater, wo sie mit einigen Freunden – nur so zum Spaß – seit Jahren ein Theaterstück proben: Tschechows „Onkel Wanja“.

Diese Inszenierung von Gregory sollte niemals öffentlich aufgeführt werden, aber als Louis Malle einmal bei den Proben zusah, schien es plötzlich ganz natürlich, einen Film über dieses Projekt zu machen. Malle filmte keine Theaterinszenierung ab; sein Film wirkt wie eine Dokumentation der Proben. Man sieht verschiedene Schauspieler im Theater ankommen, sie unterhalten sich. Eines dieser Gespräche scheint ein wenig über das Level des normalen small talk hinauszugehen – der Zuschauer stutzt und merkt langsam, daß dieser Dialog schon zum Text gehört. Immer wieder sind die Übergänge fließend, die Schauspieler wirken nie wie Figuren aus einem 100 Jahre alten Theaterstück. Der Text ist behutsam aktualisiert, so daß alle wie zeitgenössische Amerikaner sprechen, und in einer besonders emotionellen Szene sieht man plötzlich auf dem Tisch eine Kaffeetasse mit der Aufschrift „I love New York“.

Den Akteuren sind die Texte und die Rollen durch das jahrelange Proben so vertraut geworden, daß man sie nie beim Schauspielern erwischt. Jede Geste, jede Nuance wirkt wahrhaftig, gerade weil Gregory und Malle auf alle Theatertricks wie Kostüme oder Kulissen verzichten und immer wieder New Yorker Straßenlärm die Texte Tschechows untermalt. „Onkel Wanja“ gilt als das düsterste Stück des Autors. Gregory wollte daran arbeiten, weil er sich fragte, „ob es jenseits der Hoffnung noch etwas gibt“. Alle Personen des Stückes halten ihr eigenes Leben für vergeudet. Während Publikum und Kritiker das Stück immer für eine Tragödie gehalten haben, bestand Tschechow darauf, daß es eine Komödie sei. Malle gelingt es, diese Ambivalenz einzufangen, denn bei aller Intensität der Inszenierung spürt man auch immer eine ironische Distanz. Und dem wunderbaren Wallace Shawn sitzt auch bei den verzweifeltsten Wutausbrüchen noch der Schalk im Nacken.

„Vanya – 42. Straße“ ist ein langsamer, behutsamer Film. Man braucht als Zuschauer eine Weile, um sich an sein Schrittempo zu gewöhnen – aber wer sich darauf einläßt, wird durch eine aus Leben und Theater getränkte Erfahrung reicher.

Wilfried Hippen

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