: Impfmüdigkeit fördert Epidemien
Vermeintlich harmlose Kinderkrankheiten können schwerwiegende Folgen haben / Vor allem Erwachsene sind zu nachlässig / Erst bei akuter Bedrohung kommen die Ängste ■ Von Volker Wartmann
Masern sind eine harmlose Kinderkrankheit – sollte man meinen. „In den Tropen sterben jährlich über eine Million Menschen an den Folgen dieser Infektionserkrankung“, klärt Christian Schönfeld, Leiter der reisemedizinischen Abteilung des Instituts für Tropenmedizin in Berlin, diesen landläufigen Irrtum auf. „In Deutschland erkranken jährlich zwischen 75.000 und 150.000 Menschen an Masern. In jedem 2.000sten bis 3.000sten Fall bleiben schwerwiegende Folgeschäden beispielsweise am Gehirn zurück.“ Mit einer simplen prophylaktischen Schutzimpfung könne der Erkrankung an Masern vorgebeugt werden.
Angesichts der Impfmüdigkeit der Bevölkerung hat der Berliner Gesundheitssenator Peter Luther anläßlich der „Aktion Impfschutz Berlin“, die in der ersten Aprilwoche dieses Jahres stattfand, nachdrücklich auf die Notwendigkeit von Schutzimpfungen hingewiesen: „Wir müssen der Bevölkerung klarmachen, daß es falsch ist, zu glauben, Impfmaßnahmen seien heute nicht mehr so wichtig, weil die Krankheiten, die durch sie verhütet werden, heute im Krankheitsspektrum keine Rolle mehr spielen.“ Angesichts der weltweiten Ausbreitung von Infektionskrankheiten könne sich das sehr schnell wieder ändern, wenn die vorbeugenden Maßnahmen des Impfschutzes nicht kosequent angewendet würden.
Impfungen gegen Infektionskrankheiten sollen vordergründig das Individuum schützen. Mindestens genauso wichtig ist aber der Versuch, mit Vorsorgeimpfungen auch die Gesamtpopulation zu schützen. Dies gelingt nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nur, wenn Infektionskrankheiten, gegen die ein Impfserum vorhanden sei, ausgerottet würden. Dazu sei eine Durchimpfungsrate von 95 Prozent der Bevölkerung, im optimalen Fall der gesamten Weltbevölkerung, erforderlich. Die Ausrottung der Pocken ist bisher der erste und einzige Fall, bei dem diese Strategie global erfolgreich durchgeführt werden konnte. Bis zum Jahr 2000 hat die WHO neue Ziele gesteckt, unter anderem „a world without polio“.
Eine Schutzimpfung ist ein Eingriff in biologische Abläufe des Körpers. Sie dient der Vorbereitung auf eine gezielte Abwehr von speziellen Infektionserregern oder deren Gifte, so Sigrid Braun, beratende Apothekerin der Kassenärztlichen Vereinigung. Prinzipiell werde mit einer sogenannten „aktiven Schutzimpfung“ die Infektion nachgeahmt, um den Körper zur Bildung von Abwehrkräften anzuregen. „Dem Patienten wird ein Krankheitserreger in nicht mehr krankmachender Form zugeführt, gegen die der Körper dann innerhalb von vier bis sechs Wochen Antikörper ausbildet“, erklärt Frau Braun in dem Laien verständlicher Form die Wirkungsweise eines zugeführten Impfstoffes. „Das Immunsystem bildet durch die Impfung eine Art Gedächtnis gegen die Krankheitserreger aus. Die im Blut gebildeten Antikörper töten dann Erreger, sollten sie in den Körper eindringen, sofort ab.“ Schutzimpfungen bieten eine sehr große Sicherheit, können jedoch nie einen hundertprozentigen Schutz leisten.
Im Säuglings- und Kindesalter soll nach Empfehlung der Ständigen Impfkommission (STIKO) die Grundimmunisierung erfolgen. Derzeit empfiehlt die STIKO Schutzimpfungen gegen acht verschiedene Krankheiten: Diphtherie, Tetanus, Keuchhusten, Haemophilus Influenza b, Masern, Mumps, Kinderlähmung und Röteln. Ein Teil der Impfungen erfolgt als Kombinationsimpfungen. Die Kosten für diese Impfungen tragen die Krankenkassen. Um den Impfschutz dauerhaft zu erhalten, seien im Erwachsenenalter etwa alle zehn Jahre Auffrischimpfungen notwendig, vor allen Dingen die regelmäßige Auffrischung der Diphtherie-, Tetanus- und Polio-Impfung. Schönfeld relativiert diese Angaben: „Es gibt keinen Maximalabstand zwischen den Impfungen. Auch wenn die Frist von zehn Jahren überschritten wurde, ist keine erneute Grundimmunisierung notwendig, sondern reicht eine Auffrischung. Leider gibt es immer noch Ärzte, die zu oft zu viel impfen.“
In letzter Zeit schlagen Gesundheitspolitiker, Mediziner und insbesondere die STIKO verstärkt Alarm: Während bei Kindern der Prozentsatz der Geimpften aufgrund der häufig bei Routineuntersuchungen durchgeführten empfohlenen Impfungen als zufriedenstellend zu bezeichnen sei, ließe die Durchimpfungsrate bei Erwachsenen doch stark zu wünschen übrig. Nach neuesten Zahlen der WHO läge selbst in „Entwicklungsländern“ wie Chile oder Kuba die Durchimpfungsrate höher als in Deutschland. Dazu der Mediziner Schönfeld: „Je impfmüder die Menschen werden, desto größer ist die Gefahr, daß sich Epidemien wieder ausbreiten, von denen man hinterher sagen muß, Schutzimpfungen hätten sie vermeiden können.“
In den letzten Jahren tauchen wieder vermehrt Krankheiten auf, die in unseren Breitengraden als quasi ausgestorben galten. Schönfeld verweist auf Rußland und andere GUS-Staaten, wo allein 1994 50.000 Menschen an Diphtherie erkrankten, wovon ungefähr 2.500 Fälle tödlich endeten. Auch in Deutschland gab es in den letzten Jahren vereinzelte Diphtherie- Fälle, sogar mit tödlichem Ausgang. „Skeptiker gehen bei der Diphtherie-Durchimpfungsrate von nur 30 Prozent aus“, erklärt Schönfeld.
In den Jahren 1992 und 1993 trat in den Niederlanden eine Polio- Epidemie auf. „In einer religiösen Gemeinschaft, die Impfungen ablehnt, konnte sich das Polio-Virus ungehemmt ausbreiten. Leider waren auch Todesfälle zu beklagen“, schildert der Mediziner einen aktuellen Epidemie-Fall aus einem Nachbarland. „Wenn die Bedrohung offensichtlich da ist, kommen die Ängste erst richtig raus. Nach Bekanntwerden der Polio-Fälle in Holland durch die Medien stieg die Nachfrage nach Schluckimpfungen enorm an.“ Diese Fälle zeigen, daß man verstärkt darum bemüht sein müsse, die vorhandenen „Impflücken“ zu schließen. In mehreren Ländern sind gesetzliche Bestimmungen erlassen worden, die eine Pflicht zum Impfen regeln. In Deutschland gibt es solche Regelungen nicht.
Die Hauptursachen für die Impfmüdigkeit seien die Unwissenheit und die Sorglosigkeit der Menschen. „Die Arzt-Patienten- Beziehungen werden beiderseitig nicht richtig genutzt, um die Impflücken zu schließen. Kontrollieren sie ihren Arzt“, rät Schönfeld. „Bei einem kleinen Teil der Bevölkerung könnte die Angst vor Nebenwirkungen ein Grund dafür sein, sich nicht impfen zu lassen. Das ist aber eine völlig irrationale Vorgehensweise.“ Natürlich sei kein Eingriff in biologische Abläufe des Körpers ohne Risiko, aber „die Impfungen sind prima verträglich“. So sei es in seiner achtjährigen Tätigkeit beim Tropeninstitut noch kein einziges Mal vorgekommen, daß es nach einer Impfung Komplikationen gegeben hätte. In diesem Zeitraum wurden dort nahezu eine halbe Million Impfungen verabreicht.
Fernreisenden legt Schönfeld besonders ans Herz, sich vor Reiseantritt beim Hausarzt oder beim Tropeninstitut hinsichtlich eventuell zusätzlich notwendiger Schutzimpfungen kundig zu machen. „Sonst steigt die Wahrscheinlichkeit, unwillkommene Reiseandenken mit nach Hause zu bringen, drastisch an.“
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