■ Ohne ein Aufbrechen des gesellschaftlichen Konsenses der sozialen Marktwirtschaft sind Reformen unmöglich: Machtfreie Marktwirtschaft
Manchmal könnte man fast den Eindruck haben, als wäre für Deutschland die „Geburt der sozialen Marktwirtschaft“ 1948 das, was für Frankreich die Französische Revolution ist. „Soziale Marktwirtschaft“ ist heute die erfolgreichste Leerformel der deutschen Politik. Jetzt reihen sich auch die Grünen mehr und mehr in den alle Interessengruppen überspannenden Konsens der sozialen Marktwirtschaftler ein. Inzwischen wird sogar vorgeschlagen, daß die Grünen – als unverbrauchte liberale Partei – zu Erneuerern der unverfälschten „sozialen Marktwirtschaft“ werden sollten (Sibylle Tönnies in der taz vom 10. 6.).
Aber was war das ursprüngliche Konzept der „sozialen Marktwirtschaft“? Wer nachforscht, stellt fest, daß dieser Topos deutschen Selbstverständnisses auf einer Geschichtsverfälschung beruht.
Von Erhard bis Kohl behaupten alle Bundesregierungen, die Konstruktionspläne der „sozialen Marktwirtschaft“ seien in der NS- Zeit von den Ökonomen und Juristen der „Freiburger Schule“ entwickelt worden. Das macht sich gut, gehörten die Ordoliberalen doch zu den wenigen, die an deutschen Universitäten zum Nationalsozialismus standen. Doch die Behauptung, die Ordoliberalen hätten „die theoretischen Richtlinien für die Wirtschaftspolitik gegeben, die nach 1948 mit so großem Erfolg in der Bundesrepublik praktiziert worden ist“ (FAZ), ist falsch. Trotzdem wird sie seit Jahrzehnten von Zeitungen wie der FAZ und jetzt auch in der taz (Tönnies, 10.6.) wiederholt.
Im Idealfall bedeutet „soziale Marktwirtschaft“ marktkonformer Interventionismus: Die Härten des Kapitalismus sollen, ohne daß Marktmacht selbst in Frage gestellt wird, durch die entschiedene Hand des Staates ausgeglichen werden. Diese Wirtschaftspolitik der Systemkorrektur hat wenig mit der Grundidee des Ordoliberalismus („ordo“, lat. = Ordnung) zu tun: Walter Eucken (mit Franz Böhm Begründer der Freiburger Schule) stellte 1946 fest: „Die Lenkungsmethoden der freien Wirtschaft und der Zentralverwaltungswirtschaft sind gescheitert. Kapitalismus und Sozialismus bekämpfen sich in der Doktrin, de facto gehen sie ineinander über.“ Es war der „freie Markt“, der in Deutschland Konzerne ermöglicht hatte, die sich in der NS-Zeit „als Bausteine erwiesen, die leicht in das Gebäude der Zentralverwaltungswirtschaft eingebaut werden konnten“.
Für den Ordoliberalismus war es deshalb nach 1945 genauso wichtig, wirtschaftliche Macht zu verhindern, wie Demokratie und Rechtsstaat herzustellen. Dies bedeutete zuerst, daß alle bestehenden Konzerne und Großbanken aufgelöst werden sollten: „Es sind also nicht die sogenannten Mißbräuche wirtschaftlicher Macht zu bekämpfen, sondern wirtschaftliche Macht selbst.“ Grundprinzip der ordoliberalen Wirtschaftsverfassung ist die Minimierung ökonomischer Macht. Dementsprechend entwickelten die Ordoliberalen Vorschläge, mit denen das gesamte Rechtssystem vom Steuer- über das Patent- bis hin zum Haftungsrecht grundlegend reformiert werden sollte. Hätten sich die Freiburger Wissenschaftler durchgesetzt, gäbe es heute weder Großkonzerne wie Daimler-Benz und Hoechst noch die Deutsche Bank. Das Entmachtungskonzept scheiterte aber an den Interessengruppen, die die NS-Zeit überdauert hatten und auf die Adenauer- Regierung einen größeren Einfluß ausübten als die Wissenschaftler aus Freiburg und die Anti-Trust- Fraktion in der US-Regierung.
Später scheiterte die Konzeption einer „herrschaftsfreien Marktwirtschaft“ ein zweites Mal. Die 68er Bewegung verlor sich in der „Dialektik der Aufklärung“, anstatt die Aufklärung weiterzuentwickeln, wie es der Ordoliberalismus anbot. Viel radikaler als die „Frankfurter Schule“ war die „Freiburger Schule“. Während die einen Wirtschaftsmacht irgendwie demokratisieren wollten, wollten die anderen konkret Wirtschaftsmacht überhaupt abschaffen.
Und heute? Immer noch glauben Linke in Übereinstimmung mit wirtschaftsliberalen Rechten, daß kapitalistische Vermachtung ein geschichtsnotwendiger Prozeß ist. Deshalb mag vielen der Ordoliberalismus sympathisch sein, doch sein Konzept erscheint unrealistisch. In Wirklichkeit ist der auch bei den Grünen verbreitete Glaube irreal, es könnte ernsthafte ökologische und demokratische Reformen geben, wenn sich der Status quo der Vermachtung fortsetzt. So kann nur eine dezentrale Energieversorgung ohne Energiekonzerne klimaverträglich sein. Oder: Nur wenn der Agroindustrie weltweit die Freiheit genommen wird, die Marktfreiheit der Kleinbauern zu zerstören, kann der Welthunger bekämpft werden.
Dieser „Sachzwang“ für machtarme Märkte gilt für die gesamte Verfassung der Gesellschaft. Die Linke hat sich in den bundesdeutschen Großkonsens eingeordnet. Doch seine Grundformel „Vermachtete Marktwirtschaft + demokratischer und sozialer Rechtsstaat = Freiheit“ ist falsch. Ganz legal kann sich im schönsten Sozialstaat Wirtschaftsmacht bilden, die Demokratie und Rechtsstaat lahmlegen kann. So werden zunehmend Umweltnormen, die über Gesundheit und Leben entscheiden, nicht demokratisch beschlossen, sondern von industrieabhängigen Interessenvertretern in ganz Europa festgelegt, ohne daß deshalb ein einziges Ecu-Bestechungsgeld notwendig wäre. Die Deutsche Bank braucht keine eigenen Minister, um am Kabinettstisch vertreten zu sein. Ihre bloße Verfügungsmacht über Kredite, Steueraufkommen und Arbeitsplätze genügt.
Auf solche Erkenntnisse über die „Transformation der Demokratie“ reagierte die alte Linke mit der Ablehnung von Gewaltenteilung, Parlamentarismus und Wettbewerbsmärkten. Der Ordoliberalismus kommt über eine Gesellschaftskritik, die mit der marxistischen starke Berührungspunkte aufweist, zu genau entgegengesetzten Resultaten:
die großen sozialen Erfindungen der Aufklärung müssen konsequent weitergedacht und endlich auch auf die Wirtschaft angewendet werden; das Prinzip der Machtminimierung darf nicht auf die innerstaatliche Gewaltenteilung beschränkt bleiben; eine machtfreie Marktwirtschaft ist genauso in der Verfassung zu verankern wie das Wahlrecht, denn sie ermöglicht das „permanente Plebiszit der Konsumenten“ (Franz Böhm) – als einzige Form der Wirtschaftsdemokratie, die wir kennen. Um diese radikalliberale Wirtschaftsverfassung durchzusetzen, braucht es linke Energien, eine breite Bewegung zur Abschaffung verfassungsfeindlicher Organisationsformen in der Wirtschaft – seien es Medienkonzerne oder marktbeherrschende Banken. Erst wenn die „soziale Marktwirtschaft“ durch eine „machtfreie Marktwirtschaft“ abgelöst wird, können Demokratie und Rechtsstaat so funktionieren, wie es das Grundgesetz verlangt. Walter Oswalt
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen