: Verlierer sind immer die Brasilianer
Die Völkerwanderung der Armen in Brasilien führt in den Moloch São Paulo / Viele Migranten kommen aus dem Elend nicht heraus / Einzig der Müll verbindet sie noch mit der Gesellschaft ■ Von Astrid Prange
Eine Waschschüssel und ein Mountainbike. Das ist ihr Gepäck. Nach zwanzig Jahren Schuften in São Paulo ist dies die einzige Habe der fünfköpfigen Familie, die am Busbahnhof auf die Abfahrt in die Heimat wartet. Gescheiterte Einwanderer aus dem verdörrten brasilianischen Nordosten. Vor zwei Jahrzehnten hauchte der enorme Bahnhof, wo täglich 6.000 Busse an- und abfahren, ihnen die Hoffnung auf ein besseres Leben ein. Jetzt ist jede Minute Wartezeit auf dem eiskalten Beton quälende Desillusion.
Allein aus dem Nordosten ziehen jährlich 300.000 Menschen in die Wirtschaftsmetropole Lateinamerikas. Immigranten aus Italien, Deutschland, Japan, dem Nahen Osten und Korea haben das Menschengewirr zu ihrer persönlichen Goldgrube auserkoren. Die Metropole, nach Tokio, Mexico City und Schanghai der viertgrößte Ballungsraum weltweit, wächst jährlich um die Größe Frankfurts. „São Paulo muß haltmachen“, warnte bereits im Jahre 1973 der damalige Bürgermeister José Carlos Ferraz. Vergeblich. Damals zählte die Stadt gerade vier Millionen Einwohner. Heute wohnen im Großraum São Paulo 18 Millionen Menschen. Alle zwei Minuten steigt die Zahl der Einwohner um ein Neugeborenes. Experten befürchten, daß die brasilianische Metropole sich bis zur Jahrtausendwende in einen Moloch mit mehr als 24 Millionen Menschen verwandelt. Doch was treibt Menschen aus aller Welt in diese Stadt, die 1554 als ärmliche Jesuitensiedlung zur Missionierung von Indianern gegründet wurde?
„São Paulo ist eine Art Vereinigte Staaten von Brasilien. Wenn man Glück hat und viel arbeitet, kann man reich werden, Erfolg im Leben haben“, meint Marilene Felinto. Die 36jährige Journalistin hat es geschafft. Vor zwanzig Jahren kam sie ohne einen Pfennig mit dem Bus aus Recife im Süden an. Heute arbeitet sie als Literaturkritikerin bei der größten Tageszeitung Brasiliens, der Folha de São Paulo. Ihre Kindheitserinnerungen hat Marilene Felinto zu einem Roman verarbeitet: „Ich war fünf Jahre alt und aß Erde und kackte Würmer, die Augen groß aufgerissen, ohne daß man mich daran hindern konnte, am nächsten Tag draufloszulaufen und den Hügel runterzurollen“, heißt es darin.
Die Mehrheit der „Nordestinos“ bleibt an den unteren Sprossen der sozialen Leiter hängen. Sie stellen das Heer der billigen Arbeitskräfte, ohne die in São Paulo nichts läuft. Köchinnen und Kindermädchen, Tankwarte und Pförtner, Bauarbeiter und Fensterputzer, Näherinnen, Putzfrauen, Straßenverkäufer und Taxifahrer sind die Berufssparten, die den innerbrasilianischen Migranten zugewiesen werden. Für viele Nordestinos bedeutet dies bereits der Ausbruch aus der Ausweglosigkeit. Für einen Monat harte Arbeit wird im noch feudalistisch geprägten brasilianischen Nordosten nur selten ein ganzer Mindestlohn (180 Mark) bezahlt, geschweige denn die Lohnsteuerkarte unterschrieben. Und die Hoffnung, daß im Wirrwarr zwischen Arm und Reich auch Einwanderer einmal das große Glück treffen können, scheint ihnen nicht völlig ausgeschlossen.
São Paulos ehemalige Bürgermeisterin Luiza Erundina (1988–1992) und der Vorsitzende der brasilianischen Arbeiterpartei PT, Luis Ignacio Lula da Silva, trugen durch ihren Werdegang dazu bei, die Sage von den zähen Nordestinos zu nähren. „Wir haben spitze Gräten“, beschreibt Luiza Erundina die Ausdauer ihrer LeidensgenossInnen. Die heute 60jährige kam im Jahre 1970 aus dem nordöstlichen Bundesstaat Paraiba nach São Paulo. Zwölf Jahre später wagte die Sozialarbeiterin den Sprung in die Politik: Sie wurde als Kandidatin der Arbeiterpartei PT in den Gemeinderat gewählt. Im Oktober 1988 gaben 1,5 Millionen „Paulistanos“ der Frau aus dem Nordosten ihre Stimme. Der überraschende Sprung an die Hebel der Macht brachte Luiza Erundina stapelweise unerwünschte Verehrerpost ein: Nordestinos seien inkompetent und sollten da bleiben, wo sie herkommen, lautete die unverblümte Botschaft der Briefe.
Der Metallarbeiter Luis Ignacio Lula da Silva ist ein weiterer Nordestino, der in São Paulo brasilianische Geschichte schrieb. Vor fünf Jahrzehnten brachen seine Mutter und die zahlreichen Geschwister auf der Ladefläche eines Lastwagens zu neuen Ufern auf. Als siebenjähriger Junge verkaufte Lula in São Paulo Erdnüsse an der Ampel. 1980 gründete der Gewerkschafter die brasilianische Arbeiterpartei PT. Zweimal, 1989 und 1994, war er aussichtsreicher und gefürchteter Präsidentschaftskandidat seiner Partei. An die Vorurteile gegen Nordestinos erinnert er sich noch heute: „Nur weil ich damals in der Fußballmannschaft als Torschütze bekannt war, wurde ich allmählich anerkannt.“
Die Nordestinos sind nur ein Teil der Immigranten, die das Gesicht São Paulos prägen. Sie verlassen ihre Heimat nicht nur gen Süden, sondern versuchen sich gleichzeitig als Glücksritter in den Goldminen Amazoniens, als Tagelöhner bei der Herstellung von Holzkohle im Landesinneren oder als Billiglohnarbeiter im Nachbarland Argentinien. „Die brasilianischen Migranten sind am schlimmsten dran, die meisten kommen aus dem Elend nicht heraus“, beschreibt der Schriftsteller Silvio Fiorani die Völkerwanderung der Armen innerhalb Brasiliens (siehe Interview). Ausländer hingegen schafften es in kurzer Zeit, die schwierige Ausgangslage zu überwinden, da sie im allgemeinen über eine bessere Ausbildung verfügten, erklärt der Nachfahre italienischer Einwanderer.
Während der Jahrhundertwende glich São Paulo eher einem italienischen Übersee-Departement als einer ehemaligen Kolonie Portugals. Kurz nach der Gründung kam der Goldrausch, dann verfiel São Paulo in einen fieberhaften Kaffeerausch. Die Plantagenwirtschaft und der Export des grünen Goldes brachten unzählige Sklaven aus Afrika sowie Einwanderer aus Europa und Asien in die Stadt. Zwischen 1870 und 1920 strömten allein 1,2 Millionen italienische Einwanderer nach São Paulo.
Der Bau der Eisenbahn von São Paulo bis zur hundert Kilometer entfernten Hafenstadt Santos löste einen regelrechten Boom aus. Im Jahr 1860 noch glich São Paulo mit seinen 20.000 Einwohnern einer verschlafenen Kleinstadt. Hundert Jahre später war es zu einer Metropole mit 3,7 Millionen Menschen herangewachsen.
Die Italiener blieben nicht lange unter sich: Spanier, Armenier, Griechen, Araber, Türken und Koreaner ließen sich im Tal des Anhangabau nieder, wie die Ureinwohner den Fluß in São Paulo nannten. Die japanische Kolonie, damals die größte des Mutterlandes, besetzte gleich mehrere Stadtviertel. Und spätestens seit dem Aufbau der Automobilindustrie (1959 begann VW mit der Herstellung des Käfers) entdeckten auch die Deutschen das Handels- und Industriezentrum in der Neuen Welt. Mit 250.000 deutschstämmigen Brasilianern, 50.000 Bundesbürgern und 800 Firmen ist die brasilianische Hauptstadt die größte deutsche Industriestadt außerhalb der Bundesrepublik.
Die Kehrseite des exzessiven Wachstums: In São Paulo prallen Armut und Reichtum dramatisch aufeinander. Neben Villenvierteln, wo 5.000 betuchte Paulistanos hinter hohen Mauern ihrem Luxus frönen, sprießen auf den Hügeln der Stadt und unter mehrspurigen Straßenunterführungen improvisierte Elendsbehausungen. Die Zahl der sogenannten Favelas stieg in den vergangenen dreißig Jahren von 200 auf 1.500. In den Bretterbudensiedlungen haben sich drei Millionen Menschen vorübergehend eingerichtet. Noch einmal so viele Menschen hausen nach einem Bericht der Stadtverwaltung in abbruchreifen Gebäuden oder beengt zur Untermiete in Hinterhöfen. Vor zehn Jahren waren es noch 1,7 Millionen Menschen.
„Eine Überführung, die für Millionen Dollar gebaut wurde. Eine Favela, die sich darunter ausbreitet. Wie sieht die Zukunft von São Paulo aus?“ fragt der Schriftsteller Ignacio de Loyola Brandao. In seinem Roman „Kein Land wie dieses“ (siehe Auszug) gibt er sich alles andere als optimistisch. Nach der Jahrtausendwende, so malte sich Loyola 1986 aus, als er das Buch schrieb, sei Brasilien zu einer Wüste ausgedörrt. In der Megalopolis São Paulo lebten dann 60 Millionen Menschen. Und der Müll der Zivilisation türme sich zu einer gespenstischen Landschaft.
Loyolas Zukunftsvisionen kommen der Gegenwart gefährlich nahe. Zwar haben sich die 45.000 Straßen, die sich über 18.000 Kilometer Länge im Stadtgebiet erstrecken, nicht in Blechhalden ausrangierter Autos verwandelt, die mit einer klebrigen grauen Staubschicht überzogen sind. Doch bereits heute steht die Hälfte der Bevölkerung täglich zwei Stunden im Stau. Die durchschnittliche Geschwindigkeit der rund 21 Millionen Menschen, die sich täglich per Bus oder Auto durch die Straßen drängeln, beträgt zehn Stundenkilometer. Die Abgase von 10.000 Bussen und 4,3 Millionen PKWs haben die jährliche Durchschnittstemperatur in São Paulo von 18,4 auf 20,4 Grad Celsius erhöht. Sommersmog und jauchegetränkte Flüsse sind für Stadtverwaltung jedoch überschaubare Umweltprobleme verglichen mit den sich beängstigend türmenden Müllhalden. Über 12.000 Tonnen Müll fallen täglich in São Paulo an. Um jeden Lastwagen, der die Überreste der Gesellschaft ausspuckt, streitet sich auf den zahlreichen Deponien der Stadt ein wachsendes Heer von Habenichtsen.
„Es ist eine Zivilisation des Mülls“, beschreibt Loyola den rücksichtslosen Überlebenskampf in der Metropole. „Der Müll verbindet diese Menschen mit der Gesellschaft. Sie leben außerhalb, draußen.“ Die Spirale der Einkommenskonzentration dreht sich immer weiter. Innerhalb der Jahre 1981 und 1987 wuchs die Zahl der Menschen, die lediglich einen monatlichen Mindestlohn von umgerechnet 180 Mark verdienen, von 34 auf 42 Prozent an. Vier von zehn Kindern in São Paulo sind von Geburt an dazu verurteilt, sich als Bettler, Diebe oder Stricher durchs Leben zu schlagen. Während zehn Prozent der Bevölkerung aus dem Großraum São Paulo ein Drittel des dort produzierten Vermögens kontrollieren, verfügt die große Zahl der Mindestlohnverdiener gerade über ein Fünftel des Kuchens.
Allzu vertraute Verhältnisse für die Einwohner der lateinamerikanischen Nachbarländer Bolivien und Peru. Die niedrigen Löhne, mit denen Arbeiter in São Paulo abgespeist werden, wirken nicht einmal auf die verarmten Andenbewohner anziehend. Sie versuchen ihr Glück daher zuerst in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires (die Intertaz berichtete). Der Wildwuchs stößt bereits an seine Grenzen. Seit den siebziger Jahren verliert der Großraum São Paulo gegenüber dem gleichnamigen Bundesstaat an wirtschaftlicher Bedeutung. Im Landesinnern sind heute bereits zwanzig Prozent der verarbeitenden Industrie ansässig. Im Umkreis von hundert Kilometern verknüpfen Schnellstraßen einen Ring von Städten mit der Metropole. Die Stadt selbst weist eine Zunahme im Bereich des Dienstleistungssektors auf.
Nichts wird in São Paulo älter als zwanzig Jahre, lautet die Regel der Paulistaner. Seit dem Kaffeerausch im vergangenen Jahrhundert befindet sich die Stadt in einem ständigen Wandel. Fünf Jahre vor der Jahrtausendwende wartet nun ganz Brasilien auf einen neuen Umbruch auf der „Avenida Paulista“, der Banken- und Geschäftsmeile São Paulos. Führt der Weg aus dem Moloch zum Herzversagen, oder braucht São Paulo einfach nur eine Atempause?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen