■ USA: Affirmative action und Kampf gegen den Staat: Allein im Teufelskreis
Einem altgedienten Aktivisten der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung müssen die Haare zu Berge stehen, wenn er sieht, wer sich in den letzten Jahren als wahrer Nachfolger Martin Luther Kings ausgegeben hat. Zur Zeit sind es vorwiegend weiße Konservative, die Kings Vision einer Gesellschaft bemühen, in der niemand mehr nach seiner Hautfarbe beurteilt wird. Damit jedenfalls begründen Republikaner ihr Bestreben, demnächst per Gesetz aus der Welt zu schaffen, was eben jene Bürgerrechtsbewegung mit erstritten hat: „affirmative action“.
Affirmative action ist gewissermaßen die zweite Phase der Bürgerrechtspolitik. Die erste bestand in der bitter erkämpften rechtlichen Gleichstellung; die zweite in der gezielten Förderung von Minderheiten und Frauen durch den Staat, um so fortwährende gesellschaftliche Diskriminierung auszugleichen. Der republikanischen Rechten geht es schlicht darum, diese zweite Phase mit der taktisch klug gewählten Begründung zu beenden, Affirmative action würde gegen amerikanische Werte wie Fairneß und Individualität verstoßen. Das politisch liberale Spektrum steckt, wieder einmal, in einem Dilemma. Es muß eine notwendige Form staatlicher Antidiskriminierungspolitik verteidigen und gleichzeitig deren Reformbedürftigkeit diskutieren.
Natürlich ist es pure Demagogie zu behaupten, Affirmative action verstoße gegen das Prinzip der Fairneß, wenn gleichzeitig Frauen weiterhin weniger Lohn als Männer für die gleiche Arbeit erhalten oder in den Führungsetagen der amerikanischen Politik und Wirtschaft weiße Männer weiterhin unter sich sind. Trotzdem ist Affirmative action zunächst einmal eine amerikanische Erfolgsgeschichte, deren Auswirkungen man heute vor allem in Universitäten und im öffentlichen Sektor sehen kann. Nach rund 30 Jahren Affirmative action besteht also Grund genug, ein paar grundsätzlichere Fragen zu überdenken: Wie lange darf ein Staat zugunsten bestimmter Gruppen „positiv diskriminieren“? Inwieweit wird diese wohlmeinende Förderung zum gesellschaftlichen Stigma vermeintlicher Inferiorität, wie einige schwarze Gegner von Affirmative action kritisieren? Sind Hautfarbe, Abstammung und Geschlecht weiterhin adäquate Kriterien, obwohl sich die entsprechenden Gruppen in drei Jahrzehnten ökonomisch und sozial deutlich ausdifferenziert haben?
Doch diese Reformdebatte wird längst durch die Rhetorik des kommenden Präsidentschaftswahlkampfes überschattet. Die Republikaner verfolgen dabei dieselbe Strategie wie George Bush 1988 mit seiner „Willie-Horton-Kampagne“ gegen Michael Dukakis. Sie bringen das Thema Hautfarbe ins Spiel, genauer gesagt: den latenten Rassismus. Die Wurzel des Problems der „angry white males“ ist natürlich nicht Affirmative action. Das wissen auch die Republikaner. Das ganz reale Problem vieler Angloamerikaner besteht schlicht in ihrem seit Jahren sinkenden Reallohneinkommen. Die Ära, in der ein Konjunkturaufschwung mit einer Verbesserung des Lebensstandards der Arbeitnehmer einherging, ist vorbei. Die Zahl der Arbeitnehmer, die trotz eines oder mehrerer Jobs unter die staatlich festgelegte Armutsgrenze fallen, wird mittlerweile auf zehn Millionen geschätzt. Tendenz steigend. Wer knapp darüber liegt, darf sich zur „Mittelschicht“ rechnen. Eine Beförderung, eine Lohnerhöhung oder ein Stipendium kann in diesem Verteilungskampf von existentieller Bedeutung sein. Entsprechend gering ist die Toleranz gegenüber jeder Förderung von Minderheiten.
Aber es geht nicht nur um den Appell an rassistische Ressentiments aus wahlkampftaktischen Motiven. Die Opposition der amerikanischen Rechten gegen Affirmative action basiert auf einer rigiden Anti-Haltung gegenüber dem Staat, womit in erster Linie der Bundesstaat gemeint ist – eine Position, die innerhalb der Republikaner unter Ronald Reagan erstmals mehrheitsfähig wurde und nun von den Gingrich-Republikanern vorangetrieben wird. Die Forderung, der Bund habe als Gestalter der amerikanischen Politik und Gesellschaft hinter den Einzelstaaten in die zweite Reihe zu treten, ist ihr erklärtes Programm und zieht sich durch sämtliche politische Themen. Was sich gegenwärtig im US-Kongreß abspielt, ist die Neuauflage eines alten Konflikts: des Kampfs zwischen Föderalisten und Antiföderalisten.
In den hat der Oberste Gerichtshof ganz entscheidend eingegriffen. Seine Entscheidungen zur Antidiskriminierungspolitik in den letzten Wochen haben die bislang gültige verfassungsrechtliche Interpretation aufgehoben, wonach der Staat einen maßgeblichen Einfluß auf das soziale und politische Gefüge zwischen der angloamerikanischen Bevölkerungsmehrheit und den Minderheiten, allen voran der afroamerikanischen, nimmt. Viel weitreichender als das Affirmative-action-Urteil ist in diesem Zusammenhang die Entscheidung des Gerichts zur Desegregierung von öffentlichen Schulen. Das Gericht befand, daß es zwar Angelegenheit des Bundes sei, das Verbot der Rassentrennung an den Schulen durchzusetzen. Es gehe aber zuweit, sich mit der faktischen Segregation zu befassen, die in den letzten Jahrzehnten durch die Abwanderung der weißen Mittelschicht in die „suburbs“ entstanden ist. Aus diesem Teufelskreis, so die Aussage des Gerichts, müssen sich die betroffenen Eltern und die lokalen Behörden schon selbst herausziehen.
Womit, wenn immer mehr Mittel gekürzt werden? Bob Dole, chancenreichster republikanischer Anwärter auf die Präsidentschaftskandidatur, hat dem Jahrestreffen der amerikanischen Bürgermeister empfohlen, fehlende Mittel durch „moralische Tugenden“ wettzumachen. Nach Ansicht von Newt Gingrich, wie immer eine Spur unverblümter, geht es hier nicht um „Integration versus Segregation, sondern um Leistung versus Versagen“. So einfach sieht die Welt in einer „farbenblinden Chancengesellschaft“ aus.
Es gibt keine schlimmere – und teurere – Sünde, als ein Zwei-Klassen-Schulsystem zuzulassen, dessen Folgen später auch das breiteste Affirmative-action-Programm nicht beheben kann. Genau das aber ist in den USA fast gut 40 Jahre nach Aufhebung der gesetzlichen Rassentrennung geschehen. Die Vorstöße der Konservativen, durch die Ausgabe von Gutscheinen an Eltern öffentliche mit privaten Schulen um Kunden, sprich: Schüler, konkurrieren zu lassen, wird diesen Graben weiter vertiefen. Der Kampf um die Reform des amerikanischen Schulwesens und um eine adäquate Schulbildung für alle Kinder dürfte eines der bestimmenden Themen der nächsten Wahlen werden. Im ungünstigsten Fall wird die faktische Apartheid zementiert. Im günstigsten Fall beginnt die dritte Phase der Bürgerrechtspolitik. Andrea Böhm, Washington
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