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■ NormalzeitDer große Hisserich

In den Fünfzigern oder, sagen wir: nach dem Mauerbau, gab es einen drastischen Verfall bei den Berliner Immobilienpreisen; jetzt-erst-recht-unternehmerisch wurde das hochkommende Entsetzen darüber mit einer verschärften Amerikanisierung auszubügeln versucht. In Kreuzberg hielten die beiden Drogerie- (Drugstore-)Besitzer Orlowsky und Hisserich damit stand. Letzterer expandierte sogar in die Nachbarbezirke. Daher auch der Name „Der große Hisserich“. Er geht auf den Stipendiaten des Künstlerhauses Bethanien, Norbert (Kreti) Schwondkowski aus Bremen, zurück, der seinen Berliner Atelieraufenthalt seinerzeit eigentlich dazu nutzen wollte, einen Roman unter der Überschrift „Der Große Hisserich“ zu schreiben bzw. zu malen. Ich bin mir nicht sicher, ob er Herrn Hisserich überhaupt kennengelernt hat oder ob ihn das große Ladenschild bereits dazu inspiriert hat.

Orlowsky wechselte dann über die Protestbewegung gegen die Kreuzberger Kahlschlagsanierung vom Drogisten zum grünen Lokalpolitiker. Der Große Hisserich fand seine Gegner in drospa, Schlecker und anderen Ketten. Statt wenigstens „anständig zu kleben“, d.h. seine Rente abzusichern, schwankte er lange Zeit zwischen Expandieren und Aufgeben, derweil er eine Filiale nach der anderen schließen mußte. Bis auf sein „Kerngeschäft“ in der Mariannenstraße, über dem er auch – mit seiner Frau zusammen – wohnt. Seine Frau arbeitet im Laden, außerdem gibt es da noch eine (treue) letzte Verkäuferin.

Vor der Wende saß Herr Hisserich oft im Laden hinten auf einem Stuhl. Seit einigen Jahren verläßt er aber die Wohnung kaum noch. Im Laden habe ich öfter mit ihm gesprochen, wenn ich meine Filme hinbrachte oder abholte. Er hatte ein Nervenleiden und konnte nicht mehr schlafen, zigmal war er deswegen bereits in Behandlung gewesen und schimpfte nun sehr qualifiziert auf Ärzte und Urban-Krankenhaus. Schon mehrmals hatte er im Laden junge Mädchen beim Lippenstiftklau erwischt – deswegen schimpfte er auch auf die Jugend, insbesondere auf die türkische.

Selbst das Saunatreiben der Schokofabrik-Frauen im Hinterhaus ließ ihn nicht kalt, ebensowenig die komischen Geschäftsleute des Bioladens am Heinrichplatz, wozu natürlich auch ihre Kunden gehörten. Der Große Hisserich machte sie alle und alles runter. Dabei war bzw. ist er jedoch kein Apokalyptiker geworden. Alles bleibt streng im Empirischen, wobei ihm natürlich schon die Unfähigkeit der heutigen Ärzte als allgemeine Tatsache gilt. Selbst die Drogeriewaren und -arzneien sind schlechter geworden, wenn ich ihn richtig verstanden habe. Das geht über „Kraft durch Nörgeln“ hinaus. Wenn ich mies gelaunt war, pflegte ich schnell einen Film vollzuknipsen, um ihn beim Großen Hisserich entwickeln zu lassen. Wichtig war mir dabei vor allem, den Klagen des Großen Hisserich zuzuhören. Wenn gerade niemand im Laden war, gesellten sich seine Frau und seine Verkäuferin, beide in blütenweißen Kitteln, dazu – und lächelten bisweilen gequält oder murmelten etwas Versöhnlerisches, wenn er sich allzu sehr in Rage redete.

An sich waren sie sich aber wohl einig: Der Sinn liegt allein in der Expansion, d.h. im Erfolg, und der letzte Laden – das hat alles keinen Zweck mehr, da wird jetzt nur noch weitergemacht, weil er damals zuwenig geklebt hat: „Sie wissen doch, wie das so ist!“ Helmut Höge

wird fortgesetzt

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