: Schöne Aussichten in der Friedrichstraße
taz-Serie „Ortswechsel“ (Teil 3): In der mittleren Friedrichstraße wohnen Iris und Carsten Förster sowie 59 weitere Mietparteien, während in ihrer unmittelbaren Umgebung 450.000 Quadratmeter Bürofläche und 63 „Appartements“ entstehen ■ Von Uwe Rada
Fünf Jahre nach der Vereinigung beider Stadthälften ist Berlin noch immer eine Stadt der Ungleichzeitigkeit. Orte der rasanten Veränderung befinden sich oft in unmittelbarer Nähe zu Orten, in denen die Zeit scheinbar stillsteht. In der Serie „Ortswechsel“ soll diesem Reibungsverhältnis nachgespürt werden, aber auch den Ängsten und Hoffnungen derer, die den Veränderungsdruck und Stillstand aus eigener Erfahrung kennen.
Die Wohnung ist groß. Drei Räume. Die Miete ist preisgebunden, also bezahlbar. Iris Förster ist zufrieden: „Im Sommer“, freut sie sich, „läßt sich sogar die Heizung abstellen. Das ist im DDR-Neubau keinesfalls selbstverständlich.“
Zusammen mit Ehemann Carsten und ihrem Sohn leben die Försters seit 1992 in der Friedrichstraße, Nummer 172. Das Fenster zum Hof bietet keinen ungewöhnlichen Blick, der Hof ist begrünt, mit Spielplatz und Sandkasten. Zur Straße hin allerdings zerfließt der Blick im Spiegelbild. Der Milchglaspalast des Pariser Architekten Jean Nouvel ist gerade einmal 21 Meter vom Wohnzimmerfenster der Försters entfernt. Wohnen in der Friedrichstraße. Schöne Aussichten.
Zwischen der Straße Unter den Linden und dem Checkpoint Charlie entstehen derzeit 450.000 Quadratmeter an Büro- und Ladenfläche. Fünfzehn Kräne drehten sich noch vor einem Jahr auf der einst größten Baustelle Europas. Heute drehen die Investoren Däumchen und warten auf solvente Mieter. Keine Vermietungsprobleme dagegen hat die Wohnungsbaugesellschaft Mitte. Zwei Wohnblöcke inmitten der freifinanzierten Dienstleistungslandschaft vermietet die Gesellschaft, preisgebunden versteht sich: die Friedrichstraße 172, ein mit orangeroten Platten verkleidetes Wohnhaus aus dem Jahre 1988. Und die Friedrichstraße 63, ein Neubauprojekt mit Plattenornamentik im Stile der Neubebauung am Gendarmenmarkt.
Wohnen in der Friedrichstraße klingt nicht nur exotisch, es ist es auch: Auf jede der insgesamt 60 Mietparteien in der Friedrichstraße 172 und 63 kommen künftig siebentausendfünfhundert Quadratmeter Rechtsanwaltspraxen oder Designerboutiquen. „Wenn wir auf die Frage antworten, wo wir wohnen“, sagt Iris Förster, „dann müssen wir das immer zweimal erklären.“ Das war nicht anders, als die Försters vor drei Jahren auf eine Tauschanzeige antworteten. Bereits am Telefon hatte die Vormieterin gewarnt, die Wohnung habe keinen Balkon. Macht nichts, hatte Iris Förster geantwortet. Die Wohnung liege aber im Dachgeschoß. Dann ist sie wenigstens hell, hatte Iris Förster geantwortet. Schließlich rückte die Vormieterin mit der Sprache raus: Friedrichstraße. „Die war deshalb so vorsichtig“, hat Iris Förster später erfahren, „weil die Wohnung vor uns keiner haben wollte.“
Auf jede Mietpartei kommen 7.500 qm Büros
Iris und Carsten Förster sind dennoch nicht unzufrieden. Ihre Neubauwohnung in der Auguststraße war zu klein, und in Mitte wollten sie auf jeden Fall bleiben. „Wohnen in der Friedrichstraße“, findet Carsten Förster, „ist in jedem Fall besser als in Hellersdorf.“
Wohnen in der Friedrichstraße, das ist trotz gegenteiliger Beispiele (E. T. A. Hoffmann, Friedrich Engels, Ludwig Börne, Johann Gottlieb Fichte, Alexander von Humboldt oder Heinrich von Kleist) gleichwohl ein Anachronismus. Einer mit einer über hundertjährigen Tradition freilich. Zwar war die Friedrichstadt 1688 als zweite Berliner Stadterweiterung nach der Dorotheenstadt als reine Wohnstadt angelegt worden. Doch schon um 1800 veränderte sich das Straßenbild. In die Erdgeschosse der nun zumeist dreistöckigen Häuser zog es Läden und Handwerksbetriebe. Spätestens mit dem wirtschaftlichen Aufschwung des Berliner Bürgertums wurde die Friedrichstraße zur Berliner Geschäftsmeile Nummer eins. Die alten barocken Wohnhäuser wurden aufgestockt und klassizistisch überformt oder nach dem Gründerboom 1871 ganz abgerissen. In der Friedrichstraße enstanden nun im großen Stile Büro- und Geschäftshäuser. Die vormals kleinteilige Nutzung wurde entmischt, bis im Zuge der Bauordnung von 1929 der (unrentable) Neubau von Wohnungen in der Friedrichstadt höchstoffiziell untersagt wurde.
Als nach dem Fall der Mauer 1989 die Zeichen ein zweites Mal auf Gründerzeit standen, wuchsen die Träume der Investoren in den Himmel. In die Friedrichstraße, träumte der ehemalige Investorenbetreuer des Senats, Hanno Klein, werde man von Rostock bis Dresden zum Shopping kommen. „Die haben geradezu gelacht“, erinnert sich Dorthee Dubrau, Baustadträtin von Mitte, „als ich ihnen und der Treuhand bereits 1990 vorgeschlagen habe, in der Friedrichstraße wieder Wohnungen zu bauen.“ Heute konstatiert die Baustadträtin auch bei Investoren einen Lernprozeß. Am Bahnhof Friedrichstraße und am Checkpoint Charlie sollen 20 Prozent Wohnungen entstehen, rund um das Tacheles sogar 50 Prozent.
Verschwindend gering ist dagegen das Wohnungsaufkommen in den weitgehend fertiggestellten Friedrichstadtpassagen: Fünfzehn „Wohnstudios“ von 40 bis 80 Quadratmetern entstehen im „Quartier 207“ gegenüber dem Wohnzimmer der Försters. Zwölf Wohnungen verlieren sich im Zwanziger-Jahre-Imitat der Architekten Pei, Cobb, Freed & Partners zwischen Jäger- und Taubenstraße. Im quadratisch-praktisch-guten Kubus des Kölner Architekten Oswald Mathias Ungers im „Quartier 205“ harren schließlich 36 Wohnungen ihrer Vermietung. Daß das Wohnen in den Attikageschossen über mehreren Büroetagen zwar ausnehmend teuer, aber nicht gerade attraktiv ist und kein „Wohlbefinden“ erzeugt, ahnt auch die für die Architekturwerkstatt des Bausenators verantwortliche Ulla Luther. „Kleine Wohnungen gewinnen an Weite, wenn sie in den oberen Geschossen angelegt werden“, schlägt sie deshalb vor. Dann werde „über den weiten Blick“ und den „freien Himmel“ eine „gewisse Großzügigkeit“ erzielt.
Zu DDR-Zeiten war das Wohnen in der Friedrichstraße keine Pionierleistung. Spätestens seit der Rückbesinnung auf die vorhandenen städtebaulichen Qualitäten und der Wiederherstellung des Gendarmenmarkts zur 750-Jahr- Feier 1987 zogen wieder Mieter in die Berliner Mitte. Nicht die zu erwartende Rendite bestimmte die Nutzung, sondern das politische Ziel. Und das hieß seit der XV. SED-Bezirkskonferenz im Jahre 1984: „Wiederaufbau der im Zweiten Weltkrieg stark zerstörten Friedrichstraße“. Erich Honecker wünschte sich eine Magistrale, „in der es eine Freude sein wird, zu bummeln“. Und – im Gegensatz zum Westen – zu wohnen. Unter den Mietern der Friedrichstadt, erinnert sich Iris Förster, hatte die SED dennoch bald ihren Spitznahmen weg: „Shops, Ex und Deli“, soll heißen Intershops, Exquisit- und Delikat-Läden“.
Die Mieter von morgen werden freilich andere sein als die von gestern. Mit einem werden sie gleichwohl zu tun haben: mit der kapitalistischen Mangelwirtschaft hinsichtlich der „Waren des periodischen Bedarfs“. Zwar gilt einer Studie der Wirtschaftsstadträtin von Mitte, Jutta Barthel, zufolge die Versorgung in der Friedrichstadt rein statistisch als gesichert. Die Wege zur nächsten Kaufhalle freilich sind zwischen der mittleren Friedrichstraße und dem Gendarmenmarkt länger, als es die Stadtplaner erlauben. Maximal 700 Meter und längstens zehn Minuten, so will es das Bezirksamt Mitte, soll der Bäcker, Fleischer und Friseur vom Wohnort entfernt sein. In der Friedrichstadt gibt es dagegen nur zwei Supermärkte, „Ullrich“ in der Wilhelmstraße und „Meyer“ in der Nähe des Spittelmarkts.
Die Wiederbelebung ist eine Totgeburt
Doch nicht nur einkaufen muß man als Friedrichstädter in der Diaspora. Auch zum abendlichen Bier zieht es die Försters meist ins Scheunenviertel oder nach Prenzlauer Berg. „Ob in der Friedrichstraße wieder Leben einziehen wird, da bin ich skeptisch“, meint Carsten Förster, „hier fehlt doch das Hinterland.“ Daß die seit der Wende immer wieder versprochene Wiederbelebung der Friedrichstraße eine Totgeburt ist, entgeht selbst den Passanten an der „weltberühmten Kreuzung“ Unter den Linden nicht: „Die Friedrichstraße war im alten Berlin eine renommierte Einkaufsstraße und zentraler Treffpunkt des umliegenden Kultur- und Vergnügungsviertels“, wird man am Bretterzaun des Lindenkorsos belehrt. Knapp und karg wie die neue Berliner Architektur folgt dann der Schluß: „Mit namhaften Geschäften wie z.B. Escada oder Türler, [...] und der Einrichtung von Vertretungen oder Zweigstellen wie Mercedes-Benz und der Dresdner Bank wird an diese Tradition angeknüpft.“ Punkt. Absatz.
Die Försters freilich können – trotz Baulärm, Parkschwierigkeiten und der unverschuldeten Isolation – dem Wohnen auf der versprochenen Einkaufsmeile auch Positives abgewinnen. „Eine Zeitlang“, meint Carsten Förster, „habe ich mich jeden Morgen ans Küchenfenster gestellt und geschaut, wie die Passagen aus der Grube wachsen.“ Und auch der Milchglaspalast von Jean Nouvel, bei dem man den Büroangestellten wohl einmal die Butter vom Brot wird schauen können, hat seine guten Seiten: „Wenn es jetzt abends klingelt“, freut sich Iris Förster, „kann ich gegenüber auf der Glasfassade und im Schein der Straßenbeleuchtung sehen, wer unten an der Haustür steht.“
Nächsten Donnerstag: Umstrukturierung in Friedrichshain
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