piwik no script img

Race Across America

Sie fahren zehn Tage lang, rund um die Uhr. Schlaf? Kaum daran zu denken, denn die Zeit läuft. Es geht durch Wüsten und über die Rocky Mountains, und im endlosen, kräfteraubenden Treten zerfließt die Gegenwart. Jedes Jahr im August sind sie 4.700 Kilometer unterwegs, von Los Angeles nach Georgia – auf dem Rad. Warum bloß?  ■ Von Norbert Thomma und Jo Magrean (Fotos)

In der Nacht kommen die Gespenster. Gnome huschen vorbei, und turmhohe Monster zucken mit den Gliedern. Schemenhaft tauchen Fabelwesen auf und verschwinden lautlos: Trolle und Hexen, bucklige Dämonen. Da stößt ein riesiger Hund hervor, plötzlich und stumm. Der Mann auf dem Fahrrad bremst erschrocken. Nichts, wieder nur einer dieser Schatten.

Er müßte nur die Augen schließen, wie ein verängstigtes Kind in der Geisterbahn, um dem Verwirrspiel zu entkommen, das die Dunkelheit mit seiner Wahrnehmung treibt. Aber er muß nach vorn starren auf die Straße mit all ihren Schlaglöchern, Holzprügeln, Eisenbahnschienen und Tierkadavern. Erst die Morgendämmerung mit ihrem Licht wird ihn in einigen Stunden von den Trugbildern befreien.

Wie lange dauert das schon, dieses gleichmäßige Gleiten durch die Nächte? Der Mann weiß es nicht. Seine Erinnerung ist erloschen. Er weiß nur, daß er mit 29 anderen Verrückten in Irvine gestartet ist, einem Ort im Orange County, südlich von Los Angeles.

Kurz vor zwölf war es, als sie auf dem Parkplatz des Holliday Inn Hotels standen. Einige Transparente mit Aufdrucken von Sponsoren gaben dem Start einen sehr, sehr offiziellen Rahmen. Dutzende von Kleinbussen mit Dachständern reihten sich aneinander, aufgerüstet durch Scheinwerfer, Lautsprecher, Warndreiecke und Schildern: Caution – Bycicle Ahead.

Dann knarzte es verzerrt aus einem Megaphon: „Willkommen beim härtesten Sportwettbewerb der Welt, dem Race Across America, dem RAAM. Wir sehen uns wieder an der Ostküste, in Savannah, Georgia. Jedenfalls all diejenigen, die ankommen. Viel Spaß auf den 4.700 Kilometern!“

Im Pulk hatte man sie durch rauschenden Verkehr aus L.A. geleitet, ein bunter Haufen gutgelaunter Radler. Und doch war klar, daß es schon heute nichts werden würde mit dem ganz reinen Vergnügen.

Wer noch nie dabei gewesen war, hatte sich längst die Geschichten von den Veteranen erzählen lassen: Die kalifornische Wüste ist mörderisch, hey, du wirst gekocht, gebraten, gegrillt. Tags heizt die Sonne den Asphalt und den Sand zu einer glühenden Platte, und selbst die Dunkelheit bringt keine Linderung. Als wir nach Las Vegas hochfuhren vergangenes Jahr, oh Mann, da grinste es von einem gigantisch großen Thermometer: 45 Grad Celsius – um Mitternacht!

Zweiundsiebzig Stunden lang ging das damals so, und als sei das nicht genug, blies der Wind auch noch von vorn wie ein brennender Hauch. Einen erwischte es rasch, am ersten Abend schon, ausgetrocknet wie Dörrobst. Beim Pissen kamen nur noch ein paar dunkelbraune Tropfen, das war's. Und bei den anderen, die sich weiter plagten, entzündete die Glut quälende Phantasien in den Hirnen: Bilder von klimatisierten Zimmern und kühlen Bettlaken und klimpernden Eiswürfeln. Tja Mann, so ging das los anno '93, mit 24 Leuten – ganze fünf zerschundene Figuren kamen in Savannah an.

Jeder kennt diese Episoden, und jeder der 30 Radfahrer wußte auch dies: Es würde nach der Hitze in die Berge Colorados gehen und durch die endlose blöde Ebene von Oklahoma; weiter dann bis zum Mississippi, wo die Luft klebt vor Feuchtigkeit, über die Apalachen, und in ungefähr acht Tagen müßte der Sieger an der Küste Georgias ankommen. Von diesem Moment an würde die Zeit gegen die anderen laufen, denn es gilt die bösartige RAAM-Regel, daß 48 Stunden nach der ersten Zieldurchfahrt das Rennen für alle beendet wird: Schnitt. Aus.

Was also sind das für Irre, die mit eigener Muskelkraft einen ganzen Kontinent von West nach Ost durchqueren? Die täglich 500 Kilometer und mehr den Hintern scheuern, bis er grellrot leuchtet wie ein Pavianarsch? Moderne Nachfahren mittelalterlicher Flagellanten, die in lustvoller Selbstkasteiung die Erlösung suchen? Bewegungsfanatiker?

Jeder in diesem Feld hat seine Geschichte und seine Geschichtchen. Klaus Haetzel etwa, 53, liebt „Exzesse im Leben“ und sagt ganz nüchtern: „Ich bin suchtgefährdet.“ Als Jugendlicher ist es der Alkohol gewesen, und später ist er Motorrad gefahren wie besessen, „weil das dem Fliegen am nächsten kommt“. 100-Kilometer-Läufe hat er gemacht, ein Dutzend mal den Ironman, und was bleibt einem da, dem selbst „der Ultraman langsam zur Sprintstrecke geworden ist“ – 10 Kilometer Schwimmen, 424 Kilometer Radfahren und ein Doppelmarathon immerhin?

Oder Karl Traunmüller, Kriminalbeamter mit Stoppelhaar aus Linz. Alpinist war der 38jährige, zu Alleinbegehungen ist er am liebsten aufgebrochen, bis er anno '87 eine Eiswand runterstürzte, 300 Meter tief. 27 Knochenbrüche, Unter- vom Oberkiefer getrennt, zwei Halswirbel ab, ein halbes Jahr Krankenhaus. Danach war es aus mit den Bergen, die Angst vor ihnen ist er nicht mehr losgeworden. Laufen war keine Lösung, zu viele Schmerzen im kaputten Körper, da hat er sich eben einen Drahtesel gekauft. Den reitet er seitdem, stundenlang, und seine Frau ist froh, sagt er: „Ich spinn' zwar immer noch, aber nicht mehr so gefährlich.“

Oder Rob Kish, 39, der mit seinen langen blonden Locken, dem kurz gestutzten Bart und Strahlerküsselächeln aussieht wie einer, dessen Poster sich die Zahnspangenkids übers Bett hängen zum Träumen. Könnte jederzeit Barry Gibb von den Bee Gees doubeln, aber seine Realität ist: langweilige 40-Stunden- Woche als Landvermesser in Port Orange, einem Kaff in Florida, keine Aufstiegschancen. Der Job bringt Geld, sonst nichts. In seinem Urlaub fährt Kish das RAAM, regelmäßig Jahr für Jahr. Zum neunten Mal ist er dabei, einmal Sieger, dreimal Zweiter, immer hat er das Ziel erreicht, ein einsamer Rekord.

Nun fahren sie alle zusammen Richtung Mojave- Wüste, über trockenes Land, in das gelegentlich sattgrüne Wohnoasen gepflanzt sind. 50 Grad im Schatten, und es wird noch schlimmer. Sie legen sich Eisbeutel ins Genick und frostkalte Handtücher über die Schultern. Die Haut wird als Kühlaggregat der Natur nicht mehr fertig mit solchen Bedingungen, auch wenn sie 20 und mehr Liter trinken und wieder ausdampfen an diesem einen Tag. Die ersten hetzen los, voller Euphorie, als sei es ein Sprintrennen, nur bis Palm Springs. Puls nie unter 190, gefährlich hoch ist das.

Haetzel packt sich zerstoßenes Eis unter den Helm, ein rabiates Mittel gegen Überhitzung. Es hilft, nur frißt sich langsam ein stechender Schmerz in den fast kahlrasierten Schädel. Er läßt die anderen ziehen. Savannah ist weit, und Geduld und Gleichmaß sind die einzig richtigen Mittel auf der langen Strecke. Im dichten Feierabendverkehr geht es auf der Autobahn nach Osten, zu beiden Seiten der Interstate 10 liegen Hügel, grau und faltig wie ein Elefantenrüssel.

Ruhig und stetig stampfen die braunen Waden, zwei kräftige Kolben eines Motors. Knapp dahinter folgt der Begleitwagen. Der Radler nimmt nur die linke Hand vom Griff, schon fahren die Helfer an seine Seite und reichen, was verlangt wird. Magnesiumtablette. Eis. Sandwich. Flüssignahrung. Banane. Kalter Lappen. Wasser. Kartoffel. Fütterung im Minutentakt.

Haetzel will durchfahren in dieser ersten Nacht. Nur fünfzehn Minuten ruhen am Morgen, irgendwo im Freien auf der Luftmatratze. So weit wird Willy Zuber gar nicht mehr kommen. Der Schweizer taumelte kurz bei Kilometer 362 und plumpste vom Rad, ehe ihn seine Begleiter auffangen konnten, dehydriert und unansprechbar. Er wußte von nichts mehr, als er zu sich kam, glatter Filmriß.

Der nächste, bitte! Der nächste, den es aus dem Sattel putzte, war Danny Chew. Sie nennen ihn das „Mega-Mile-Monster“, was ein wenig wie der nome de guerre eines Catchers klingt, doch der Mann aus Pittsburgh hat zeitlebens 555.000 Kilometer auf Fahrrädern zurückgelegt bis zu diesem RAAM, und das ist nicht eben wenig für einen mit 31 Jahren. Genaugenommen ist das 13,85mal die Strecke rund um den Erdball, gesetzt den Fall, er wäre nie von der Äquatorlinie abgewichen – und während dieser Satz gelesen wird, sind es vermutlich wieder ein paar Meter mehr.

Dieser Danny Chew jedenfalls wurde ein Opfer seiner eigenen Dummheit; manche würden es vielleicht auch Mannesstolz nennen. Konnte es einfach nicht vertragen, daß anfänglich mit Seanna Hogan eine leibhaftige Frau vorneweg fuhr, die zudem noch frech angekündigt hatte, sie würde es den Kerlen diesmal aber zeigen. Heftig trat er in die Pedale, aber mit dem Körper ist es wie mit einem Automobil: Wenn es zu lange hochtourig gefahren wird, muß es in die Werkstatt.

Chew legten sie im Krankenhaus von Cortez auf die Intensivstation. Nach zwei Stunden hatte er sich die Sauerstoffmaske vom Gesicht gerissen und die Infusionsnadel aus der Armbeuge gezogen. Er tapste ins Wartezimmer, brüllte „Here we go!“ und wollte weiter. Sie steckten den Widerspenstigen ins Bett.

Am Morgen drauf saß sein Vater Hell an einem hübschen Rastplatz in Durango, Colorado. Eine Voralpenlandschaft, Berge, saftiger Wald, hinter den Ruhebänken ein klarer Fluß. Der Alte sah aus wie eine Kreuzung aus Hemingway und Bukowski, und Dannys Eskapaden schienen ihn zu belustigen. Wie im Koma hat der Junge gelegen, völlig kollabiert, erzählte der Weißbart, die Zähne mußten sie ihm aufbiegen fürs Fieberthermometer, der konnte ja nicht einmal mehr die Lippen bewegen. Und sein erster Satz, als er wieder sprechen konnte, war: „Eine Frau hat's mir gegeben.“

Man hätte nun über die mangelnde Lernfähigkeit des Danny Chew debattieren können, da preschte er frisch gewaschen und gesalbt heran, richtig megameilenmonsterartig, rief zur Kontrollstelle, wo sich jeder Fahrer zu melden hatte, „Nummer 129 wieder im Rennen“ und flog die Straße entlang. Der alte Hell schüttelte lächelnd den Kopf und folgte im Auto. Seanna Hogan war den Chews nun 18 Stunden voraus, und das nach knapp drei Tagen.

Das sind die Geschichten, aus denen das RAAM seinen Mythos schnitzt: hemmungslos heroisch. Aber in seiner ersten und schlaflosen Nacht hat Klaus Haetzel den anderen Deutschen getroffen, Hubert Schwarz. Dem geht es lausig – ständig wirft sein Magen den Inhalt aus. Auch Traunmüller, ein wuchtiger Stamm von 1,94 lichter Höhe und 80 Kilo, erleidet seinen ersten Einbruch. „Die mörderische Hitze“ hat ihn zermürbt und den nagenden Zweifel eingebrannt, „ob ich es denn überhaupt schaffen würde“, denn: „In der Sauna hab' ich doch nicht trainiert.“

Er hat Glück. Einer schaltet die Wüstenheizung aus, und die milde Luft bringt Erholung. Am Morgen stehen Kakteen in kargem Hügelland, lauter grüne, dicke Effenbergsche Mittelfinger, Zeichen des Hohns: Na, ihr Narren, wie weit noch?

Hinauf nach Flagstaff, erstmal, wohin Sportler sonst gerne zum Höhentraining fahren. Vorbei an Hütten und Wohnwagen, in denen Goldsucher auf Nuggets und gelben Staub hoffen. Geschmolzenes Eis tropft unter Klaus Haetzels Helm hervor. Riesige Trucks mit silbrig glitzernden Auspuffrohren ziehen ihn in rauschende Luftwirbel. Lange, zehrende Steigungen winden sich auf 2.300 Meter.

Hey, was aussieht wie die Schwarzwaldhochstraße nach Hinterzarten, ist die Route 66! Der erste Highway, der 1926 Chicago mit Los Angeles verband. Die Rolling Stones haben die „kicks on route sixty-six“ besungen, John Steinbeck machte sie in den 30ern, den Jahren der Großen Depression, zur „mother road“ in seinem Roman „Die Früchte des Zorns“. Und Jack Kerouac, natürlich, stromerte darauf entlang.

Egal. Kein Sinn für amerikanische Geschichten, nur der unbändige Wunsch zu schlafen. Als Klaus Haetzel vom Rad steigt, leicht nach vorn gebeugt, mit langem Hals und fast kahlem Schädel, sieht er aus wie ein nasser Bartgeier. Vier traumlose Stunden versinkt er im kühlen Bett. Der Arzt hat ihm in die Vene gestochen, und mählich rinnen aus einem Beutel Proteine ins Blut.

Kein Wort des Murrens, als er um Mitternacht geweckt wird. Weiterweiterweiter, ins Land der Navajo- Indianer. Aus dem Ghettoblaster des Autos singt John Lee Hooker, und Haetzel könnte tanzen vor Vergnügen. Nicht mehr lange, dann bringt der Sonnenaufgang die roten, flach abgeschnittenen Berge zum lodern.

Diese verdammt schöne Landschaft hatte Karl Traunmüller ständig vor Augen. Vier Monate ist er auf sie zugefahren, genau 5.997 Kilometer hat er dabei zurückgelegt. Und doch bewegte sich nichts, der immer gleiche Abstand blieb. Als großes Poster hing dieses Stück Arizona an seiner Kellerwand. Den ganzen Winter, wenn an ein Training im Freien nicht zu denken war, hatte er die Reifen seines Rennrads auf zwei Walzen gestellt zum stoischen Strampeln. Zweihundertundfünfzig Stunden mit Blick auf das drei Meter entfernte Marlboro-Country.

Nun aber flimmern diese wie aus Pappmaché geformten Tafelberge in der Hitze und kommen langsam näher, und Traunmüller mag es kaum glauben: Irre, ein Wahnsinn! Jetzt gibt es ein Foto von diesem Wildwest-Motiv, und ich bin mit drauf! So hat er sich das vorgestellt, als er zu Hause mit krummem Rücken die Pedale nach unten drückte und wie ein Hamster im Laufrad nicht von der Stelle kam.

Weit über den Lenker gebeugt fährt Haetzel, die Unterarme aufgestützt, in aerodynamisch günstiger Haltung. Beim Blick nach vorn spannt sich der Nacken. Verkrampfte Muskeln werden schlecht durchblutet. Möglichst oft wechselt er die Sitzposition. Es gilt, die drei entscheidenden Sollbruchstellen zu schonen: Genick, Knie, Gesäß. Von der Nabe des Hinterrads hört er ein monotones, metalliges Schnurren. Vor der Netzhaut läuft ein graues, endloses Band. Die Wahrnehmung wird unscharf, die Bilder zerfließen.

Es gibt keinen Ort mehr und keine Zeit. Der Mann auf dem Rad bewegt sich auf einem unsichtbaren Leitstrahl. Das Schwungrad im Hirn, das die permanenten Selbstgespräche am kreiseln hält, wird langsamer, kommt ins Stocken, zum Stillstand. Wo vorher Gedanken waren, ist nur noch diffuses Assoziieren. Keine Bäume mehr, keine Autos, keine Häuser: Lichtspiele ersetzen die Konturen, die Welt als Kaleidoskop. LeereRuheLeereRuhe.

Ein Zustand, der zwischen Schlaf und Trance pendelt. Der Radfahrer trinkt und ißt und fährt Kurven. Irgendwann kommt er zu sich. Sind Minuten vergangen, Stunden? Rob Kish erzählte, er mache schwebend Sprünge von 100 Kilometern und wüßte danach von nichts mehr. Und Haetzel konnte bisweilen auf die Frage, wo er sich denn befinde, nicht einmal mehr ein vages „Amerika“ antworten.

An die folgende Nacht wird sich Haetzel trotz aller geistigen Abschweifungen erinnern. Vierundzwanzig Stunden tretentretentreten. Über den San Juan River, nach Colorado hinein. Die Müdigkeit hängt sich an ihn, und kein Kaffee, keine Cola, kein Rock 'n' Roll aus den Boxen kann sie dauerhaft verscheuchen. Der Begleitwagen fährt hinter ihm, um seinen Weg auszuleuchten. Um die Fußgelenke hat er gelbe, phosphoreszierende Streifen gebunden, die nun auf und ab tanzen wie spielende Glühwürmchen.

Zuerst werden die Augen träge. Der Kampf dauert lange, aber der Fahrer verliert ihn. Sein Helm sinkt nach unten, und das Fahrrad beginnt zu schlingern. Die Glühwürmchen kommen aus dem Rhythmus und werden langsamer. Gleich wird er fallen und über die Straße schlittern, doch der Mann am Steuer drückt auf die Hupe, und der Ton fährt ins Hirn wie eine schrille Alarmsirene. Wenn er am Morgen auf jenen Rastplatz in Durango rollt, der schon die Auferstehung des Danny Chew gesehen hat, wird er mit heiterer Stimme sagen: „Ich habe mich das erste Mal gefragt: Warum machst du das überhaupt?“

Natürlich macht der Berliner weiter. Der Sinn im Sinnlosen. Die Eitelkeit, der Stolz und zudem: „Ich habe noch nie aufgegeben. Sonst wäre ich heute nicht hier.“ Fünfzehn Jahr ist das her, daß ihm eine Geschwulst aus dem Darm geschnitten wurde, groß wie eine Kinderfaust. Krebs, tut uns leid, ein paar Wochen haben Sie noch! Er pfiff auf alle Vernunft und die Schulmedizin mit ihrer Chemotherapie. Schlüpfte in Laufschuhe und rannte, noch ehe die Narbe richtig verheilt war. Fastete und legte sich in 45 Grad heiße Bäder, um mit künstlich erzeugtem Fieber die Krebszellen abzutöten. Und sucht sich heute die sportliche Ekstase und diesen Wahn, der seine Rettung war.

Auf geht's, zum Wolf-Creek-Paß, der legendäre Anstieg, 3.309 Meter hoch. Die Luft ist frisch, nach all dem Brüten der vergangenen Tage, und der blaue Himmel hängt voll mit weißer Zuckerwatte. Kein Grund zu klagen. Haetzels Muskeln sind weich, an den Waden bewegen sie sich geschmeidig wie Schlangen in einem Schlauch.

Gut 20.000 Kilometer Training hat er hinter sich, das sollte auch für die Rocky Mountains reichen. Ein Jahr lang nichts als RAAM: Full-time-Job, Radfahren, Sponsorensuche, Organisation.

An den freien Tagen morgens immer um drei auf der B5 gen Westen nach Nauen, dann runter durch Sachsen-Anhalt, die Straße der Romanik entlang, zurück bei Nacht. Vor dem Spätdienst eben mal 200 Kilometer abspulen. Firmen anschreiben, Termine machen. „Bis ich bei Daimler 2.000 Mark rausgeleiert habe, bin ich dreimal rausgeflogen.“ Einmal RAAM macht rund 50.000 Mark. Allein das Rad, ein gelbes futuristisches Ding aus Karbon, achteinhalb Kilo leicht, kostet 10.000.

Aber was nutzt das alles? Es ist diese eigenartige Reise von Kalifornien nach Georgia weniger ein Einzelzeitfahren als vielmehr eine Expedition. Einer schafft den Gipfel, aber ohne Sherpas ist er verloren. Team 174, Klaus Haetzel: 1 Radfahrer, 1 Plymouth Voyager, 1 Homemobil, 1 Arzt, 1 Masseur, 2 Mechaniker, 6 weitere Helfer.

Der auberginfarbene Minibus ist ein Kramladen. Drei große Plastikboxen voller Eis, Flaschen, Obst und Dosen. Körbe stapeln sich mit Ersatzkleidung, Regenzeug, Brot, Keksschachteln, Tabletten, Cremes, Reifen, Schläuchen, Kameras, Matten, Handtüchern, Kuchen, Taschenlampen, Thermoskannen, Beuteln mit Kassetten, Tuben, Salben.

Sie bemuttern den Mann wie einen Säugling, in Schichten, Stunde um Stunde, rund um die Uhr. Den freundlichen Ton würde die Abteilung Umgangsformen beim Bund Deutscher Tanzlehrer mit einer glatten Eins bewerten. Sie zeigen ihm den Weg und feuern ihn an. Wenn er sich hinlegt, kneten Finger die geschwollenen Füße und reiben den Rücken mit Öl. Der Arzt tupft die wunden Stellen am Hintern ab und überklebt sie mit breitem Pflaster. Während er schläft, warten sie die Räder, waschen seine Kleider, trocknen sie mit dem Föhn. Drei Stunden später findet er Zahnpasta auf seiner Bürste und eine Schüssel mit Nudelsalat neben dem Bett.

„Ich bin doch nicht so blöde, das nicht zuzugeben“, sagt Haetzel einmal und tappt dabei etwas steif durchs Motelzimmer: „So viel Liebe und Zuwendung bekommt man sonst nicht im Leben. Auch das ist ein Grund, hier mitzumachen.“

Wolf Creek, der Paß auf 3.200 Meter. Leicht und locker drüber. „Ich fliege“, ruft er mit beseelter Mine, „heute zersäge ich alles.“ Wie lange dauert das euphorische Jagen? Zwei Stunden? Oder fünf? Irgendwann kommt die Apathie, ganz sicher. Immer wieder wechseln die Masken ohne äußeren Grund, jeden Tag geht das so. Mal sind die Züge jugendlich straff, ohne Zeichen ihrer 53 Jahre, mal drücken sich Kerben hart und tief in die Haut. Dann wieder liegt der Erschöpfte wie aufgebahrt im Autositz.

Weiter. Schlaf ist verschenkte Zeit. Dort vorn wartet Oklahoma, ein Land, übersichtlich wie die See. Ringsum nur karges Gras und Horizont. Die Straßen liegen da wie ausgerollte Maßbänder. 194 Kilometer die längste Gerade, acht Stunden Fahrzeit unter beißender Sonne. Nichts, woran sich das Auge festhalten könnte, und Karl Traunmüller, der daheim schon Tage alleine in Felswänden verbrachte, hat hier seine Begleiter inständig gebeten: „Redet mit mir, irgendwas, ich halt' das nicht mehr aus.“

Sonst kriecht die Einsamkeit meist nachts unter seine Haut. Vor den Augen nur ein schwarzes Loch, ein enger, niedriger Tunnel. Dann blättert er müde und stundenlang im Daumenkino durch Goyas schwarze Malerei, ein Panoptikum bizarrer Figuren. Und das metallige Zirpen der Zikaden schwillt zu einem Brausen. „Du fühlst dich verlassen, ausgesetzt, als wärst du der einzige Mensch im ganzen Weltall.“

Was soll's. „Ich nehm's als Abenteuer“, hatte er vor dem Start gesagt, „ich will das schaffen.“ Ein Pragmatiker. Psychische Grenzbereiche, Meditation? Einmal hat er sich so ein vergeistigtes Buch gekauft und drin geblättert und festgestellt: „Bringt nichts.“ Wann immer man ihn trifft in diesen Tagen, nimmt er leicht die linke Hand vom Lenker und winkt.

Ist das jetzt schon Arkansas? Und der wievielte Tag? EssenTrinkenFahren, EssenTrinkenFahren. Bis zu 14.000 Kilokalorien verbraucht der Körper täglich. Mehr als selbst ein veritabler Holzfäller verputzen kann. Traunmüller suckelt hochkonzentrierte Kohlehydrate aus einer Plastikpulle, neben dem Treten seine Hauptbeschäftigung auf dieser Reise. 150 Liter Flüssigkeit wird er bis zur Ostküste durch seinen Magen spülen. Vanille-, Tropic- oder Schokogeschmack, längst vermag der Gaumen keinen Unterschied mehr auszumachen. Alles eine Soße.

So verrutschen alle normalen Maßstäbe mit dem Fortgang der Zeit. Gegen Ende des neunten Wettkampftages nämlich steht Team 174 an der Kontrollstation 47, einer BP-Tankstelle in Linden, Tennessee. Und Klaus Haetzel, der etwas ausgezehrt an seinem gelben Renner lehnt, sagt: „Jetzt will ich, daß es zu Ende geht.“ Da klopft ihm jemand aufmunternd die Schulter: „Komm, nur noch 1.000 Kilometer.“ 1.000 Kilometer. Einmal kurz Flensburg – Garmisch-Partenkirchen auf dem Fahrrad. Nur noch!

Längst ist der Fahrer verplant wie eine streckenfressende Maschine. Auch die Helfer müssen einmal schlafen. „Fahrt voraus und legt euch hin, in sechs Stunden sind wir bei euch.“ Es kann gut passieren, daß Haetzel nach 18 Stunden ständigen Strampelns eine freundliche Stimme aus dem Begleitwagen hört: „Bis zum Motel noch 35 Meilen, dann ist Schichtwechsel.“ Und in der vorletzten Nacht sagt er dann: „Oh Gott, das sind wirklich Abgründe des Grauens.“

Ist es da noch erstaunlich zu erfahren, was somnambule Radler denn tagsüber so alles erleben? Rob Kish etwa fuhr an einer langen Schlange von Menschen vorbei, die ihn alle nach seiner Telefonnummer fragten. Ziemlich nervend fand er das, zumal er keine Visitenkarten dabei hatte – man kann ja nicht an alles denken. Und der Traunmüller Karl war doch arg irritiert, als er kräftig tretend einen Berg hinunterpfiff, und der Tacho zeigte digitale 15 und keinen Kilometer mehr. Steig mal ab, haben sie ihm da gesagt, und schau dir die schöne Steigung an, mit der du dich gerade abmühst.

Hübsche Halluzinationen, nicht wahr, weshalb es einen auch nicht wundern muß, daß Kish unterwegs öfter mal mit seiner Frau zusammen auf dem Tandem fuhr. Nur, wenn er sich nach hinten umdrehte, war sie nicht da.

Trotz ihres Schlafmangels, sie bummeln ja nicht auf dieser Tour, keiner von ihnen. Einen Durchschnitt von 25 Kilometern in der Stunde zeigt der digitale Tachometer noch beim Langsamsten, der in Savannah als offizieller „Finisher“ ins Ziel kommt – nach 4.700 Kilometern. Nur zwei, drei Stunden Schlaf pro Tag, ganz normaler Straßenverkehr mit roten Ampeln und rüpelnden Autofahrern, Hitze, die Rockys, Reifenpannen, all die dunklen Nächte, und kraftsparendes Windschattenfahren ist verboten.

Ha, was war das für ein Sturm, der mit mehlfeinem Sand die Luft verdickte und den robusten Traunmüller fast aus dem Sattel blies! Teufel auch, was war das für ein Regen, der wie eine Wand stand und Haetzel nur noch die Flucht ins Auto ließ, während draußen Blitze und Wetterleuchten ein André-Heller-Feuerwerk an den schwarzen Himmel warfen. 25 Stundenkilometer und mehr im Schnitt, 8, 10, 11 Tage lang, und wer das für nichts Besonderes hält, soll das bei der nächsten Sonntagstour nur eine Stunde lang versuchen. Und daran denken, nicht wahr, daß diese Leute hier einem Job nachgehen zu Hause wie du und ich, und Klaus Haetzel 53 Lenze zählt, nur so zum Beispiel.

Wo sind die anderen? Rob Kish ist schon im Ziel, als erster, der alte Fuchs. Nach 8 Tagen, 14 Stunden, 25 Minuten. Er hat sich einen Dreck geschert die ganze Zeit um seine Mitstreiter, die schon einen halben Tag voraus waren, als seine Eingeweide anfangs rebellierten und ihm einen langsamen Takt aufzwangen. Wie ein stures Kamel zog er dahin, stetig, stetig, „und als mir an Georgias Grenze einer zurief ,Du führst!‘, da dachte ich noch immer nicht daran, zu gewinnen.“

Das tat er dann doch, der erfolgreichste RAAM- Fahrer nunmehr, seit es vor 14 Jahren als Schnapsidee anfing mit diesem West-Ost-Trip. Er nahm den stolzen Siegerpreis in Empfang, 1.000 Dollar und einen richtig großen Fernseher, und sagte dann: „Jetzt wieder zur Arbeit zu gehen, ist echt furchtbar, oh shit, lieber würde ich nach Kalifornien zurückfahren.“ Es gibt einige – kein Witz –, die haben das schon gemacht.

Und Danny Chew, der hitzköpfige Mega-Mile-Macho? Der hat die kleine Seanna Hogan noch erwischt nach ihrer fulminanten Ouvertüre, aber es waren nur fünf Männer, die vor ihr das Ziel passierten.

Eintausend Kilometer also noch für Klaus Haetzel. Er rollt über eine lange Kette von Hügeln, auf und ab, auf und ab, und neben der Straße steht das Grün wie ein Korridor. Die feuchte Luft riecht dumpf nach faulem Wasser, der wilde Wein hat fesselnd ganze Bäume überwuchert, daß sie dastehen wie Stalagmiten. Um die Häuser mit ihren Veranden und Hängeschaukeln ist weitläufiger Rasen so akurat gestutzt, wie ihn Bernhard Langer beim Putten liebt – in Tennessee sieht man Kinder mit Rasenmähern spielen und nicht mit Autos oder Puppen. Glänzende Panzer toter Gürteltiere liegen auf dem Asphalt, und wer mit dem Zählen der Kirchen nicht mehr nachkommt, ahnt, warum dieser Landstrich zum „bible belt“ gehört.

Weiterweiter, Savannah lockt, Mister, eine Dusche, ein duftiges Handtuch. Ach, dieser letzte Rest ist ein zäher, klebriger Brei. Seit Ewigkeiten hat Haetzel keinen der anderen Fahrer mehr gesehen. Kaum anzunehmen, daß noch einer hinter ihm ist. Die Augen liegen tief, und die Haut ist dünn, ein trauriger Vogelkopf, aber das Tempo hält er mit wackerem Tritt. An den Waden zeigt sich ein scharfes, feingliedriges Relief aus harten Muskelschnüren und Adern. Vier Kilo Gewicht hat er verloren: Körperfett, verbrannt im Feuer der Kohlehydrate.

Das Ziel ist nun nicht mehr nur die Küste im Osten. Allen und sich selbst beweisen will Klaus Haetzel, daß dies kein Leidenstrip ist, sondern die reine Lebensfreude und Genuß. „Ich werde lachen bis zum Schluß.“ Er wird trotzdem wieder auf dem Rad einschlafen und sich „wie ausgekotzt“ fühlen und wankend am Auto lehnen und sagen: „Es ist verrückt. Mir tut nichts weh, ich bin nur fertig.“

Diese letzten Kilometer, Karl Traunmüller hat sie gestern schon „wie die Hölle“ erlebt. Noch eine Stunde und noch eine, und zweimal haben ihn die Helfer zur Zwangsruhe vom Rad gezerrt, weil er die ganze Breite der Straße brauchte, und das ist nicht gut bei regem Gegenverkehr. Ein komischer Anblick war das: Wie da einer auf dem Rennrad saß, in der rechten Hand den Lenker, und in der anderen ruhte aufgestützt das Kinn, als würde er grübelnd am Schreibtisch sitzen. Es ging nicht anders. Die Nackenmuskeln waren erschöpft, und wenn er die Hand wegnahm, fiel sein Kopf einfach nach unten.

Er ist auch so angekommen in Savannah, über das klumpige Kopfsteinpflaster gerumpelt, vorbei an den roten holländischen Ziegelhäusern. Ende am klotzigen Hyatt Hotel, an einer beschaulichen Flußpromenade. Neunzehn Stunden später ist Klaus Haetzel da, als einer von 18, die es geschafft haben in der von Rob Kish gesetzten Zeit – der Senior hatte einen Tag Bonus. Medaille um den Hals, Ehrenring, und später, ach ja, ein schönes, frisches Bier.

Das war's dann. Jeder aus diesem Haufen erzählt nun seine Geschichten. Der Esoteriker Haetzel die von der „seelischen Kernschmelze“ und dem „Stück intensiv gelebten Lebens“ und dem „erweiterten Bewußtsein“. Wenn er solche Sätzen hört, stehen dem Florida-Boy Kish nur große Fragezeichen im Gesicht. Neue Innenansichten, tiefe Weisheit aus der Selbstüberwindung? Hat er nicht zu bieten. Nichts Transzendentales nach dem transkontinentalen Ritt. Er ist nur „von West nach Ost gefahren – mehr nicht“.

Der Linzer Kriminale lümmelt zufrieden im schweren Sessel seines Hotelzimmers, nach einer durchschlafenen Nacht: „Es gibt außer mir nur einen Österreicher, der das RAAM gepackt hat – das ist doch was.“ Er weiß jetzt, daß er's kann. Noch einmal muß er das nicht haben. Zu großer finanzieller Aufwand, zuviel investierte Zeit. Doch dann schlüpft Karl Traunmüller der Schalk in die Augen, als er sagt: „Dieses Winterrennen in Alaska, das reizt mich. Nur 600 Kilometer, ein Tag, das ist gut machbar.“

Wenn es dumm kommt, hat es dort glatte 40 Grad unter Null. Hubert Schwarz aus dem Fränkischen, der war schon mit dem Mountainbike in dieser Kältekammer. Ihm hat es fast die Eier dabei abgefroren.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen