: Unglaublich und empörend
■ betr.: „Die Friedrichstadt als Mondlandschaft“, taz vom 7. 8. 1995
Es ist unglaublich und empörend, daß in einer so geschundenen Stadt wie Berlin Abrisse historischer Bausubstanz und Zerstörung historischer Ensembles überhaupt noch erwogen und dann auch noch genehmigt werden. Das Eintreten für diese mittlerweile auch atmosphärisch lebenswichtigen Bauzeugnisse ist somit nicht nur für die Stadtbewohner, sondern auch im Sinne einer so viel beschworenen Standortattraktivität für Investoren, für das Hotel- und Tourismusgewerbe unabdingbar.
Zwar wurde den neuen Bedürfnissen nach Stadthygiene, städtischer Infrastruktur und historistischer Repräsentation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts enorm viel historische Stadtsubstanz geopfert, doch war dies nicht so sehr „Ausdruck eines zu Macht gekommenen Bürgertums“ gegen die baulichen Zeugnisse der Hohenzollern. In allen Metropolen, bedenken wir die Haussmann-Planung in Paris, bestand dieses Problem – und es wurden ja nicht nur Gebäude gehobener Repräsentation beseitigt, sondern ganze Wohnquartiere. Fairerweise muß hier aber gesagt werden, daß in dieser sogenannten Gründerzeit, ihres glanzvollen Ausdrucks wegen auch Belle Époque genannt, der Stadtbau vom öffentlichen bis in den privaten Raum mit einer gesteigerten anspruchsvollen gestalterischen Leistung vollzogen worden ist. Sehen wir von der tristen Seite der Mietskasernen ab, so leistet das sehr auf Äußerlichkeit bedachte Bürgertum, paradoxerweise als Nebeneffekt zu den spekulativen Absichten, auch einen hauskulturellen und stadtbildwirksamen Beitrag, der heute oft vermißt wird.
Heute werden historische Leistungen bedenkenlos einer Fiktion von Moderne geopfert, ohne Bauträger und Baugestalter adäquat in die Pflicht zu nehmen. Abgesehen davon, daß in einer so verlustreichen Stadt wie Berlin überhaupt keine Abbruchgenehmigungen für historische Gebäude mehr erteilt werden dürften, sollten diese im unumgänglichen Fall nur mit erhöhten Leistungsansprüchen an die moderne Architektur und stadträumliche Gestaltung möglich sein. Die Zersiedelungen und Zerstörungen der Städte durch moderne Stadtstrategen, Architekten und Verkehrsplaner in den 50er bis 70er Jahren machen überdeutlich, daß die Moderne, ohne sich an der Historie zu messen, bankrott erleidet. Monotonie, unsinnliche Glätte und klinische Kälte machen sich so allerorten breit. Allerdings muß die Moderne sich neben einer bewahrten Historie souverän behaupten, um so wieder zum Ereignis werden zu können. Insofern möchte ich dem Kunsthistoriker und Stadtführer Ernst Siebel wirkungsvolle Stadtführungen wünschen. Werner Brunner
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