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■ Die Ermittler staunten, als sie nach dem Mörder von Heinz Herbert Karry suchten: „Der Mann hatte viele Feinde.“ Ein Schatzmeister der Bundes-FDP – viele Feinde? Linke Terroristen? Waffenschieber? Frankfurter Rotlicht- Ganoven? Oder war's die Baumafia? Heide Platen über einen ungeklärten Fall. Fest steht nur:Der Tod kam durchs Fenster

Der weiße Bungalow in Frankfurt-Seckbach steht da wie ein riesiger Schuhkarton – typisch futuristischer Geschmack der sechziger Jahre. Als der hessische Wirtschaftsminister und Schatzmeister der FDP, Heinz Herbert Karry, 1961 mit seiner Familie hier einzog, waren die eher bescheidenen Häuser am Rand des alten Ortskerns noch „etwas Besseres“. Drahtglasscheiben schirmen heute Terrasse und Fenster an der Rückseite des Hauses vor neugierigen Blicken ab, gleich neben einem Fußweg. Sie fehlten noch, als der Minister am 11. Mai 1981 erschossen wurde.

Der Täter kam gegen 5 Uhr morgens. Er stellte eine dem Gefälle angepaßte, abgesägte Klappleiter an die Wand in der Hofhausstraße 51. Dann schoß er sechsmal mit einer kleinkalibrigen Pistole, High Standard, Modell 103 Long Rifle, Kaliber 22, durch das geöffnete Schlafzimmerfenster und verschwand – bis heute unerkannt. Karry verblutete im Bett: Vier Kugeln hatten ihn getroffen, eine davon zerfetzte die Beckenschlagader.

An Beweismitteln fehlte es nicht. Die Leiter blieb stehen, die Pistole wurde wenig später an der nächsten Unterführung zur Bundesstraße gefunden. Zeugen beschrieben ein junges Paar, das sie mehrmals mit einem roten Fiat Autobianchi Primula vor dem Haus gesehen haben wollen. Die Pistole war eine von achtzehn Waffen, die 1970 von zwei GIs aus der US-Kaserne „Ayers“ bei Butzbach gestohlen worden waren und „auf den Markt kamen“.

Eine davon tauchte bei einem Mitglied der „Bewegung 2. Juni“ in Hamburg auf, zwei weitere in einer konspirativen Wohnung in Frankfurt und einem Postpaket in Berlin, eine vierte war 1974 bei einem Anschlag japanischer Terroristen in Holland benutzt worden. Mit einer anderen hatte sich ein ehemaliger Häftling umgebracht, der sich am Rande der Frankfurter linken Szene unglücklich verliebt hatte. Eine war bei einem Antiquitätenhändler aufgetaucht und wieder verschwunden.

Schon am Tag der Tat hatte Bundesanwalt Rebmann die Täter dem Terrorismus zugeordnet. Danach gerieten seine Statements immer wankender: Weder die „dilettantische“ Ausführung mit kleinkalibriger, zum Töten eigentlich nicht geeigneter Sportschützenwaffe noch das Zurücklassen von Beweismitteln paßten zum „Planungs-Fanatismus“ der RAF. Auch das Fehlen eines Bekennerschreibens verunsicherte die Fahnder. Der umtriebige Karry habe, stellten sie fest, „mehr Feinde gehabt, als wir dachten“. Sie ermittelten bei Rechtsextremen, bei Beteiligten am Schuldenskandal um die Hessische Landesbank, erinnerten sich der Vorwürfe, daß Karry die Baumafia bei Preisabsprachen gedeckt und Beziehungen zum Bahnhofsmilieu gehabt habe, forschten bei Waffenschiebern, Parteispendern, Atom- und Autobahngegnern, spürten Familienfehden und, so ein BKA- Ermittler, „auch den Frauengeschichten“ nach.

Das Psychogramm von Karry erschließt sich schnell: Der Mann wollte geliebt werden. Nur selten haben bei einem Politiker der Hang zu Leut- und Weinseligkeit und knallhartes Durchboxen großer Industrieprojekte so kraß im Widerspruch gestanden.

Er verblüffte Autobahngegner, wenn er ihnen bei Diskussionen mit gerunzelter Stirn versicherte, daß er sie gut verstehen könne. Die Besetzer der B8-Trasse in Königstein verwirrte er, als er sie für ihr Engagement lobte und ihnen aus eigener Tasche 100 Mark stiftete. Startbahngegner, die vor seinem Haus demonstrierten, füllte er in seinem Wohnzimmer mit einem Faß Apfelwein ab.

Mit einem Kasten Bier, einer kleinen Geldspende, quasi als Mensch und Privatmann, hat er immer wieder versucht, sich diejenigen gewogen zu machen, denen er hinterher einen offiziellen Tort antat. Er entschied mit missionarisch überzeugtem Technik- und Fortschrittsglauben Biblis C, den Ausbau der Startbahn West des Rhein-Main-Flughafens, den Bau zahlreicher Bundesstraßen und Autobahnen. In seiner eigenen Partei erregte er Unmut, als er öffentlich erwog, ein neues Atomkraftwerk in den Mainbogen zwischen Frankfurt und Offenbach zu stellen.

Nebenbei spaltete er die Frankfurter FDP, als er ihr kurz vor den Kommunalwahlen die Koalition mit der CDU nahelegte. In Bonn machte er sich unbeliebt, weil er immer wieder auf eigene Faust reiste und sich in die Ost- und Chinapolitik einmischte. Furore machte er aber auch, als er sich im Landtag mit einer bewegenden Rede für eine kommunistische Lehrerin und gegen deren Berufsverbot einsetzte. Karrys jüdischer Vater hatte den Faschismus im KZ überlebt, er selbst war in ein Arbeitslager gesteckt worden.

1979 schien der Minister politikmüde und dachte über seinen Rücktritt nach. Polizeischutz hatte der Frühaufsteher, Schwimmer und Kettenraucher Karry trotz diverser anonymer Drohbriefe und -anrufe abgelehnt.

Die Stadtzeitung Pflasterstrand druckte vier Wochen nach dem Attentat ein mit „RZ“ unterzeichnetes Faksimile ab, in dem die Ermordung Karrys „ein Unfall“ genannt wurde: „Hätten wir Karry umlegen wollen, hätten wir ein anderes Kaliber benutzt und vor allem seinen Kopf (bzw. seinen Oberkörper) ins Visier genommen.“ Genau dies aber wäre, so Polizei-Experten nach einer Rekonstruktion, aus Blick- und Schußwinkel nicht möglich gewesen, es sei denn, der Minister hätte in dieser Nacht falsch herum in seinem Bett gelegen. Von Anfang an hielt sich das Gerücht, das Bekennerschreiben sei eine Fälschung.

Das BKA folgte der Fährte dennoch. Die linke Prominenz am Main sah sich 1983 unversehens in die Ermittlungen involviert und mit Vorladungen zu Vernehmungen eingedeckt. Bundesanwalt Peter Morr, ein Schöngeist, der bei Hausdurchsuchungen und Festnahmen die Bücherregale der Probanden geschmäcklerisch auf deren intellektuelle und literarische Substanz untersuchte, trat dabei eher als Historiker denn als Ermittler auf.

Er fragte nach Ursprung und Ende der spontaneistischen, legendären Gruppe „Revolutionärer Kampf“ (RK), „aus der sich“, wie das BKA irrtümlich mutmaßte, „die Altkader der Revolutionären Zellen rekrutieren“. Ein Unterzeichner vieler RK-Flugblätter geriet dabei zum bundesanwaltlichen Wunschbild eines klandestinen RZ-Chefs auf Feierabendbasis.

Dem folgte eine aufwendige Überwachung, bei der zahlreiche Telefone, teils fast zwei Jahre lang, abgehört, Menschen bei Spaziergängen und Lebensäußerungen bis in die Betten hinein ausspioniert wurden. Abhörbeschlüsse wurden immer wieder mit dem „überaus vorsichtigen und konspirativen Verhalten“ des Verdächtigen begründet. Der Mann allerdings war Elektronikbastler, telefonierte im Technikerjargon und nicht, wie die Abhörer annahmen, im Geheimcode; er hatte, wenn, allenfalls gegen das Fernmeldeanlagengesetz verstoßen.

Die Aktion endete Anfang 1985 nach fünf Hausdurchsuchungen als Schlag ins Wasser; der Frustration folgte nach öffentlich gewordenen internen Querelen zwischen Bundesanwaltschaft, Bundes- und Landeskriminalamt die Einstellung der Ermittlungen.

Seit 1984 sind weitere sechs Menschen aus Politik und Wirtschaft Opfer von Attentätern geworden. Keiner der Fälle konnte aufgeklärt werden. Das BKA rechnet sie alle einer nach „Hit-and- run-Taktik“ agierenden „dritten Generation der RAF“ zu.

Nachspiel I: Im Flick-Untersuchungsausschuß schieben 1984 namhafte Vertreter aus Politik und Wirtschaft die Schuld an der Spenden-Affaire auf Schatzmeister Karry.

Nachspiel II: Am Pfingstdienstag 1986 betritt ein kleiner, unauffälliger Herr den Flur der Landtagsfraktion der Grünen in Wiesbaden. Der Chef des hessischen Verfassungsschutzes, Scheicher, ist gekommen, um mal „mit den Grünen über Karry“ zu reden, weil die immer wieder auf die Offenlegung der Karry-Ermittlungsakten gedrängt hatten. Der staatsschützende Taschenspieler im Buchhalter-Look legt gleich zwei Bekennerschreiben vor und möchte wissen, welches denn nun das gewesen sei, das der Pflasterstrand seinerzeit abgedruckt habe. Zwei Bekennerschreiben? Das wahre und das echte? Und sei nicht, fragte Scheicher lächelnd nach, eines der beiden eine Fälschung gewesen?

Nachspiel III: Im Mai 1992 erscheint im Maintal Anzeiger unter Pseudonym ein Bericht eines ehemaligen Spiegel-Redakteurs, dem zufolge der damals noch als RAF- Terrorist gesuchte Wolfgang Grams den Karry-Mord mit drei durchgeknallten „Polit-Freaks“ in Frankfurt spontan ausgeheckt habe, um „den politischen Kampf wiederzubeleben“. Zwei seiner Mittäter seien inzwischen in einem Ashram in Poona, eine Frau ganz verschwunden. Grams wurde am 27. Juli 1993 auf dem Bahnhof in Bad Kleinen erschossen.

Nachspiel IV: Der Stern meldet im Herbst 1994, daß eine libysche Rüstungsfirma der FDP Ende der siebziger Jahre Parteispenden auf Karry-Konten in der Schweiz überwiesen und dafür vom damals FDP- geführten Auswärtigen Amt Exportpapiere bekommen habe. Die FDP dementiert.

Nachspiel V: „Bekennerschreiben? Karry-Mord? Hatten wir das nicht gefaked?“ quietscht im Sommer 1995 vergnügt eine Ex-Pflasterstrand-Redakteurin auf Anfrage durch das Telefon. Das wiederum bestreiten ihre ehemaligen Kollegen vehement. Gerüchte über einen solch makabren Scherz habe es immer wieder gegeben: „Aber wenn, dann war das nie und nimmer aus der Redaktion.“

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