Unser kleines Radio: Schnulzen-Junkies im Rauschzustand
■ „Radio Bremen Melodie“, die neue Welle, hat das Hossa-Syndrom im Griff: „Ein Aufwärts für den deutschen Schlager“
Ein Gymnasiallehrer aus Posthausen entleibte sich, nachdem er durch eine Chromosomenanalyse erfuhr, daß sein noch ungeborener Sohn das Schnulzen-Gen in sich trage. In einem Abschiedsbrief nannte der Mann den Gedanken unerträglich, daß sein Nachfahre in einer hochgradigen Abhängigkeit von leichter Schlagermusik leben müsse. Solche hysterischen Reaktionen erscheinen dem außenstehenden Betrachter überzogen, werden nach der Inbetriebnahme von „Radio Bremen Melodie“ jedoch verständlicher.
Die Auswirkungen des Schnulzen-Gens werden allerdings weithin überschätzt. Beobachtungen, nach denen sich männliche Versuchspersonen nach tagelangem Schnulzen-Entzug im Affektstau mit Dirndl, Goldkettchen, Rüschenhemd und weinrotem Dinner-Jackett bekleidet hätten, gelten als Einzelfälle. Mediziner vertreten die Ansicht, daß sich die bremischen Schnulzen-Junkies seit Beginn der Ausstrahlung von „Radio Bremen Melodie“ in einem „kontrollierbaren, leicht euphorischen Rauschzustand“ befinden und „keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung“ mehr darstellen.
Danach wurden Überlegungen der Sozialbehörde gegenstandslos, das Schnulzen-Gen (“Hossa-Syndrom“) der Seuchenverordnung zu unterwerfen, eine Meldepflicht einzuführen und die Träger des Gens statistisch zu erfassen. Für besonders schwere Fälle stehen auf einer ehemaligen Viehweide in Oberneuland jedoch „Melodie-Container“ bereit, in denen gefährdete Abhängige unter ärztlicher Aufsicht Schnulzen anhören können.
„Eine Kutsche voller Mädels und die Taschen voller Geld, wer hat so viel Glück bestellt und was kostet die Welt.“ Die Schnulzen-Junkies sind süchtig nach solchen musikalischen Ausdrucksformen, in denen sich die bremische Realität in einem diffusen, heiteren Impressionismus wiederspiegelt. Auch zeitkritische Ansätze werden dabei bildhaft verklärt: „Sommernacht in Rom und wir beide träumen“ - „Ich fand keinen Freund in New York City“ - „Fly away, Brazilian Love Bird“.
Selbst in der Moderation finden sich immer wieder Passagen, die das lebensbejahende Element im Denken der Schnulzen-Junkies aktivieren und bedrohliche Freie Radikale binden: „Verbreite Du jetzt gute Laune - Ich sage Tschüss.“ Das ist es, was Bremen braucht: Kraft durch Freude.
„Radio Bremen Melodie“ gelingt es, den zwanghaften Trieb des schnulzophilen Bremers zu einem romantischen Lebensgefühl in lieblich tönende Aphorismen des Weser-Existentialismus zu kleiden: „Das Leben ist kurz und die Liebe ist schön“. Im Vergleich dazu erscheint das auf Radio Bremen 2 fast zeitgleich gesendete Pendant aus einem Song von Johnny Winter häßlich und emotionsfeindlich: „The Blues is everywhere - Life is hard and then you die.“
Gefühlskalte Instrumentalmusik, von Lenny Tristano oder Miles Davis etwa, ist dem bremischen Wesen generell nicht zuträglich. Wie ein Sommerhimmel spannt sich dagegen eine Klarinetten-Interpretation von „Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben“ oder „Griechischer Wein“ freundlich besonnt vom Sender zum Hörer.
„Radio Bremen Melodie“ ist ein Geniestreich der Beschallung. Mit denkbar einfachen Mitteln ist die vom epidemisch auftretenden Schnulzen-Gen ausgehende Bedrohung gebannt. Im Zeichen des musikalischen Erkennungs-Jingles „Auf, Matrosen, ohe“ hat sich „Melodie“-Macher Karl-Heinz Calenberg erkennbar bemüht, die in ihn gesetzten Erwartungen zu erfüllen. Dies drückt auch der deutsche Schnulzen-Mullah Dieter Thomas Heck in einer Grußbotschaft aus: „Möge Radio Bremen Melodie ein weiteres Aufwärts sein für den deutschen Schlager.“
An den Boxen war
Lutz Wetzel
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