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Eine hochmoralische Geschichte

Nach dem womöglich EM-sichernden 4:1 gegen Georgien loben sich die deutschen Kicker in höchsten Tönen. Grund dazu haben sie nicht  ■ Aus Nürnberg Peter Unfried

Als es nicht mehr so lief und ihm der Gegenspieler Klinsmann auch schon zur Beruhigung „einen Richtigen mitgegeben“ hatte, war der vormals forsche Georgier Tschichradse ziemlich ruhig geworden. Ganz geknickt wandte der Verteidiger sich an den deutschen Kapitän und seufzte: „Jetzt hört auf, bitte! Wir haben doch eine so junge Mannschaft.“ Ja, hoppla. Ist das nicht eine Anekdote nach unserem Herzen? Nicht genug, daß man 4:1 gewonnen und die EM-Qualifikation so gut wie abgehakt hat. Viel schöner: Vom unwiderstehlich großartigen deutschen Fußball Zermalmte winseln wieder um Gnade!

Die Geschichte muß stimmen. Erzählt hat sie nämlich Kapitän Jürgen Klinsmann (31). Und dessen Leumund ist bekanntlich noch besser als sein Torquotient. Demzufolge ist auch unbesehen zu akzeptieren, daß „in der Truppe eine tolle Stimmung“ ist. Wir merken schon: Die Zeit des Lobens ist wieder da. Tatsächlich herrschte nach dem Sieg von Nürnberg große Begeisterung über das Vollbrachte. Adressat allen Lobes: die deutschen Kicker. Absender: auch die deutschen Kicker.

Schlüsselwort ist offenbar die sogenannte „Moral der Mannschaft“ (Thomas Helmer). Die nämlich „steckt in der Mannschaft“ (Andreas Möller), war „toll“ (derselbe) oder auch „das Bemerkenswerteste“ (Helmer wieder). Verwirrt? Moral, erklärt dazu der Moral-Kapitän, geht so: Frühes 0:1 der Georgier bedroht zunächst EM-Qualifikation. Schock. Verkrampfung. Alles aus? Nein: „Dadurch, daß wir das Tempo hochgehalten haben“, sagte Jürgen Klinsmann, „sind sie eingebrochen.“ Enger gedeckt, besser gepaßt, schneller gespielt, dann, das hat Berti Vogts neuerdings zu seiner Lieblingsfloskel erkoren, „war's eine Frage der Zeit“.

Im Ernst: Die Georgier, Tabellendritter und 5:0-Sieger gegen Wales, gehören, was ihr ästhetisches Verständnis vom Spiel betrifft, unzweifelhaft zu den europäischen Lichtblicken. Aber mei: Mit dem Rennen hapert's. Und taktisch erwies das Team sich im Frankenstadion als – aufgemerkt – noch rückständiger als selbst die Deutschen. Nach Möllers Ausgleich (39.) deutete sich an, was nach Zieges 2:1 (59.) nicht mehr zu übersehen war: Georgien huldigte nun einzig dem Spielmotiv, ohne auch nur vage noch Interesse für das Ergebnis erkennen zu lassen. Wodurch der täuschende Eindruck entstand, die Deutschen hätten, wie Thomas Helmer das nennt, „so gespielt, wie wir alle uns das vorstellen“.

Nicht mehr allein war da der Thomas Häßler groß, Christian Ziege spielte plötzlich, als sei er der beste Mann weit und breit, und ausdrücklich zu bewundern ist sein Paß, den Klinsmann nicht nutzen konnte, doch im Nachsetzen Ulf Kirsten zum 3:1 (62.). Weil irgendwann gar der brave Markus Babbel bei Häßlers Eckstoß „einen Schritt vor, einen zurück“ machte und somit eine Situation entstand, aus der es „gar nicht mehr schwer war“, den Ball ins Tor zu köpfen (72.), stand es 4:1, und das Vergessen nahm seinen Lauf.

Daß Babbel laut Stellenbeschreibung „die rechte Seite zumachen und wie im Verein ein bißchen mit nach vorne gehen und flanken“ sollte? Zuzumachen war nichts, mit Flanken war auch nichts. Und ohne Gegenspieler wirkt der Babbel wie ... Jetzt braucht es ein besonders plastisches Bild ... wie, ja, wie Jürgen Kohler mit! Im Fall des hochdekorierten Grätschenmannes, der das 0:1 vorbereitete und ansonsten von einem gewissen Schota Arweladse ausgespielt wurde, hat der Bundestrainer immerhin schon mal „überlegt, aber ...“ Überlegen ist gut! Vorschlag: Auch zu den Aufgabenbereichen der links hinten postierten Strunz und Freund gäbe es etwas zu überlegen oder zu dem weitestgehend uninspirierten Mitgerenne der Co-Nummer-10, Andreas Möller.

Doch einerseits will keiner, daß der zu heulen anfängt, andererseits war da der Moment, als sonst nichts ging – und plötzlich Möller ein Fäustchen ballte. Helmer hatte das gemacht, was Georgien nicht mochte: Tempo. Was folgte, sagt Möller, war, „was man immer erwartet von mir, mit Turbo und so“. Mit einem fremden Wort: Klasse! In diesen fünf Sekunden war Möller Extraklasse. Das, war zu sehen, kann auch Ziege sein, oder Häßler. Oder Rekonvaleszent Klinsmann, dem aber was fehlte? Sein Kapitän wußte es: „In der einen oder anderen Situation die Spritzigkeit.“

Nun will keiner mit altbekannten Listen langweilen, aber es muß doch gesagt werden, daß ein Spieler der Extraklasse heutzutage viel ist. Muß nicht gleich ein Spielmacher wie Georgi Kinkladse (Manchester City) sein, dessen Kosungen des Spielgerätes eine seltene und beiderseitige große Liebe belegen. Aber lauschen wir: Sammer, Basler, Matthäus, Köpke und selbstredend Effenberg. Wie klingt das? Irgendwie besser. Dazu die oben erwähnten, und hinten stellen wir nicht mehr eine Handvoll, sondern drei, oder – falls nicht deutsch, sondern taktisch klug gespielt werden muß – besser nur zwei frische Recken rein.

Aber keinen wie Georgi Tschichradse. Den hatte, wie berichtet, der forsche Stürmer Klinsmann körperlich verwarnt. Und? „Normalerweise fangen die, wenn sie eine kriegen, dann zu lamentieren an.“ Nicht Georgi. „Der hat das akzeptiert.“ Dies findet der Kapitän erwähnenswert, alles habe „sehr, sehr viel Spaß gemacht“. Die Georgier, dies mag auch jene devote Vorzugsbehandlung demonstrieren, wären die letzten gewesen, ihn den Deutschen zu verderben.

Georgien: Dewadse - Gujabidse - Schelia, Tschichradse - Gogitschaischwili (67. Artschil Arweladse), Kawelaschwili (46. Kilasonia), Kinkladse, Nemsadse, Kezbaja, Kudinow - Schota Arweladse

Zuschauer: 44.000; Tore: 0:1 Kezbaja (28.), 1:1 Möller (39.), 2:1 Ziege (57.), 3:1 Kirsten (62.), 4:1 Babbel (72.)

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