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Mehr Pop-art als im Dschungelbuch

■ Die russischen Bürgerschreck-Künstler Natalja Gontscharowa und Michail Larionow im Pariser Centre Georges Pompidou

„Die Berühmteste unter den Progressiven ist eine Dame. Tout- Moskau und Tout-Petersburg läuft ihr nach und versucht, nicht nur ihre Bilder, sondern auch ihre Person zu imitieren. Sie hat die Mode von schwarzen, blauen oder orangen Nachthemden für Gala- Abende lanciert, und noch einiges mehr: Sie bemalt sich den Körper mit Blumen, zeichnet sich Elefanten und Häuser auf Stirn und Wangen, oder färbt sich eine Gesichtshälfte blau, die andere gelb.“

Die Rede ist von Natalja Gontscharowa, Malerin, Aktionistin und Theoretikerin der russischen Avantgarde in den zehner Jahren dieses Jahrhunderts. Derjenige, der sich so leidenschaftlich für sie ereifern konnte, war Sergei Diaghilew, Leiter des Russischen Balletts in Paris und ihr ständiger Auftraggeber. 1913 hatte die Künstlerin sein Stück vom „Goldenen Hahn“ kostümiert und sich ein Jahr später fest in Paris eingerichtet. An ihrer Seite begleitete sie Michail Larionow, ebenfalls Maler und gelegentlich tätig für Diaghilew. 1881 geboren, hatten sich Gontscharowa und Larionow – beide gerade neunzehnjährig – an der Moskauer Kunstakademie kennengelernt und seitdem nicht mehr getrennt. Mit der Heirat ließen sie sich Zeit. Sie fand 1955 statt, sieben Jahre vor ihrem Tod. Larionow starb zwei Jahre später.

Nachdem zum hundertsten Geburtstag 1981 das letzte Mal eine gemeinsame Ausstellung ihrer Werke für zehn Tage in einer kleinen Pariser Galerie zu sehen war, hat nun das Centre Pompidou Gontscharowa und Larionow eine Retrospektive gewidmet. Gezeigt werden fast ausschließlich Arbeiten, die 1988 aus dem russischen und französischen Staatsbesitz dem Musée National d'Art Moderne als Schenkung übergeben wurden und jetzt erstmals öffentlich präsentiert werden. Insgesamt 23 Gemälde und 59 Grafiken, dazu Kostümentwürfe und Zeichnungen, die in der Ausstellung durch zehn weitere Exponate aus Rußland und Deutschland ergänzt wird. Ein recht kleiner Rückblick also, denn bereits 1913 konnte Natalja Gontscharowa ihre erste Einzelausstellung in Moskau mit 700 Werken bestücken.

Obwohl beider Namen noch immer nicht so geläufig sind wie die ihrer Landsleute Chagall, Kandinsky, Werefkin, Jawlensky und Malewitsch, fehlen Gontscharowa und Larionow heute bei keiner Übersichtsausstellung zur russischen Avantgarde. Doch ihre Anwesenheit beschränkt sich dort zumeist auf Werke ihrer sogenannten rayonnistischen Phase, in denen sie sich vom realistischen Abbild der Gegenstandswelt befreien und deren energetische Strahlungen (Rayons) in farbigen Lichtformen festhalten wollten.

Die Ausstellung im Centre Pompidou zeigt hingegen eines deutlich: Der Rayonismus war nicht mehr als eine kurze und exklusive Episode gemeinsamer Arbeit. Obwohl Gontscharowa und Larionow ein Leben lang nebeneinander verbracht haben, ist ansonsten von einer gegenseitigen Beeinflussung nichts mehr zu sehen. Gerade die Gegenüberstellung zeigt vielmehr, daß die beiden grundverschiedene Auffassungen von Malerei besaßen. Auf der einen Seite leuchtet der wie ein Retabel aufgehängte siebenteilige Erntezyklus Gontscharowas, als ob dort die Stoffbahnen für ihre orangefarbenen, blauen, schwarzen und violetten Nachthemden an der Wand hingen. Auffällig sind vor allem die vier mittleren Tafeln, die in gewaltig bewegten, einfachen Bildformen Zeichen der Pop- art vorwegnehmen, jeden Comic in den Schatten stellen und selbst Walt-Disney-Kreationen – etwa das Dschungelbuch – daneben blaß aussehen lassen.

Die Jahreszeitenbilder Larionows, eine Mischung aus steinzeitlichen Höhlenmalereien, ägyptischen Papyrusrollenillustrationen und Kinderzeichnungen, wirken demgegenüber fast karg. Doch seine Strichmännchen und primitiven Figuren besitzen einen sehr eigenen Charme und Witz, so etwa die kleine Darstellung des Frühlings am Eingang der Ausstellung: eine Zwitterbüste aus einem dicken Matrosen mit großen Kreolen in den Ohren und kleinen Brüsten.

Tatsächlich entpuppt sich Larionow, der als „russischer Impressionist“ seine Malerkarriere um die Jahrhundertwende begonnen hatte, als Grafiker und Karikaturist, wie er sich in den Jahreszeitenbildern und Alltagsszenen aus dem Soldatenleben ankündigt. Im Gegensatz zu Gontscharowa griff er nach dem rasanten Durchlauf ihrer progressiven und innovativen Phase, in der sie Künstlergruppen wie den „Eselschwanz“ oder die „Karo-Buben“ gründeten, Theorien ent- und verwarfen oder sich bunt bemalt als Bürgerschreck auf Moskaus Straßen empfahlen, fast nur noch zum Zeichenstift. Aus seinen ohnehin blasseren Bildern verschwand die Farbe. Er ist bei seinen karikativen, ulkigen Figuren stehengeblieben. Selbst seine Entwürfe für Diaghilew verzichten nicht auf das Lächerliche. Bobil, der Hanswurst aus „Die Sonne der Nacht“, grinst leicht dümmlich wie ein Clown, dessen Arme wie die einer Zwangsjacke an seinem haltlosen Körper baumeln.

Tatsächlich war Natalja Gontscharowa die schöpferische Kraft. Sie ließ keine der avantgardistischen Strömungen passieren, ohne sich selbst darin probiert zu haben. Dabei blieb sie immer in der russischen Geschichte verhaftet. Die Ikonenmalerei und der Lubok, russische Volksbilderbögen, gaben ihrer Arbeit die Farbpalette, das immer Grelle und Bunte und die Vorliebe für schwere schwarze Umrisse. Ihre scheinbar fremdartige futuristisch-kubistische „Dame mit Hut“ lebt von diesen Qualitäten. Große malerische Werke hat auch Gontscharowa in den Pariser Jahren nicht mehr geschaffen. Dafür war sie unermüdlich und erstaunlich ideenreich mit Kostüm- und Bühnenbildentwürfen beschäftigt. Erst als 1957 der erste Sputnik ins All schoß, lockte sie das Signal des Aufbruchs wieder vor die große Leinwand. „Der Genius unserer Zeit sind: Hosen, Jacken, Schuhe, Busse, Straßenbahnen, Flugzeuge, Eisenbahnen, herrliche Schiffe – welch ein Zauber! Wir erwarten vom Publikum keine Beachtung, bitten es jedoch, auch von uns keine zu erwarten. Es lebe die Schönheit des Orients!“ proklamierte sie 1913 im rayonnistischen Manifest. Nun malte sie in aller Stille, unbeachtet, kosmische Räume. Petra Welzel

Bis 24. 9., Centre Georges Pompidou, Paris; 10. 11. bis 21. 1. 96 in der Fondation Pierre Gianadda, Martigny/Schweiz. Katalog ca. 100 DM

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