: Trotz scharfer Töne aus Moskau im Streit Rußland - Nato ist Jelzins Westorientierung nicht ernsthaft in Gefahr. Westliche Verschwörungstheorien über den Granatenangriff in Sarajevo werden gehegt, Hysterie wird von oben geschürt; das Wahlvol
Trotz scharfer Töne aus Moskau im Streit Rußland – Nato ist Jelzins Westorientierung nicht ernsthaft in Gefahr. Westliche Verschwörungstheorien über den Granatenangriff in Sarajevo werden gehegt, Hysterie wird von oben geschürt; das Wahlvolk läßt sich trotzdem nur schwer aufrütteln. Der Kreml auf der Flucht vor der bitteren Selbsterkenntnis.
Wut über eigene Machtlosigkeit
„Statt einen ,Zyklon‘ auszulösen, ,Ente‘ in die Welt gesetzt“, titelte Rußlands renommierteste liberale Zeitung, Iswestija, gestern. Hinter dem Wirbelsturm „Zyklon“ verberge sich das Codewort gezielter Provokationen westlicher Geheimdienste: Sie seien es, die die beiden Anschläge auf die Märkte Sarajevos zu verantworten hätten. Das will die russische Aufklärung ermittelt haben. Doch Nachforschungen bei den zuständigen Stellen blieben den Beweis schuldig, die Quellen anonym. Wenn Belege vorhanden sind, warum werden sie dann nicht im Streit zwischen Nato und Rußland zur Trumpfkarte gemacht? fragt die Zeitung. Das Aufkommen von Verschwörungstheorien ist symptomatisch. Einerseits zeigt sich Rußlands Öffentlichkeit immer noch empfänglich für sie, andererseits offenbart sich dahinter die Hilflosigkeit der russischen Diplomatie, mit dem eigenen Bedeutungsverlust fertig zu werden. Tonlage und Wortwahl der russischen Führung werden von Tag zu Tag schärfer. Der Vorwurf des Genozids an den bosnischen Serben wird nur vorläufiger Höhepunkt sein.
Die russische Öffentlichkeit nimmt wenig Notiz vom Balkankonflikt, er ist ihr eigentlich egal. Ob Serbe oder Kroate, kaum ein Russe wird da eine Unterscheidung treffen können, zumal beide „slawische Brüder“ sind. Seit Beginn des Krieges wurde die Öffentlichkeit lediglich mit Randnotizen versorgt. Um so auffälliger ist die Hysterie, mit der die staatlichen Medien sich dieses Themas gestern annahmen. Die unabhängige Presse steuert dem etwas gegen, ohne allerdings auf Kritik an der Nato zu verzichten. Das Auftrumpfen Premierminister Tschernomyrdins sowie Jelzins emotionaler Auftritt vergangene Woche sind mit Sicherheit innenpolitisch motiviert und gehören zum Wahlkampfauftakt. Doch die Erklärung reicht nicht hin. Den Nationalisten und Chauvinisten, die einen kompromißlosen antiwestlichen Kurs verfolgen, Stimmen abzujagen, dazu eignet sich der Bosnienkonflikt kaum. Ebensowenig dazu, dieses Thema hegemonial zu besetzen. Interesse und Betroffenheit müssen erst noch geschürt werden. Und darin besteht das Paradox, nicht zuletzt auch eine gewisse Gefahr: Während das Wahlvolk die Dinge gleichgültig hinnimmt, wird von Regierungsseite Hysterie geschürt. Dabei legen die verschiedenen politischen Kräfte eine bisher nicht gekannte Einmütigkeit an den Tag. Das deutet auf tieferliegende Wurzeln hin als die Empörung über den Nato-Lufteinsatz. Rußland wird schmerzlich daran erinnert, daß es seine Rolle als Supermacht verloren hat. Nicht allein die ungeschickte Diplomatie des Westens löste dieses Trauma aus, sogar Serbenführer Milošević scheint den russischen Initiativen kaum Bedeutung beizumessen – wohl wissend, daß eine Aufhebung des Embargos nur von westlicher Seite Erleichterungen bringt.
In gewisser Weise schiebt die russische Politik den Prozeß der dringenden Selbsterkenntnis noch einmal auf die lange Bank. Die Furcht vor dem „inneren Frieden“ ist größer als die Angst vor dem Gesichts- und Bedeutungsverlust. Hinzu kommt die Enttäuschung des demokratischen Lagers, von den „Partnern“ im Westen und vor allem in den USA nicht gleichwertig behandelt zu werden. Das Gefühl macht sich breit, nur ausgenutzt worden zu sein. So etwas spielt den Nationalisten in die Hände und zwingt selbst die Liberalen zur Abgrenzung gegenüber dem Westen, auch wenn sie in Jugoslawien keine anderen veritablen Lösungen parat halten. Doch begegnet man dem Westen nicht gleichermaßen ablehnend, in den Untertönen ist die Differenzierung deutlich zu vernehmen. Übeltäter sind die USA, Europa steht noch auf einem anderen Blatt.
Die Drohungen, einen „Warschauer Pakt“ wieder ins Leben zu rufen, dokumentieren nur die Kopflosigkeit des Kreml. Er läuft Amok. Trotz aller wutschnaubenden Rhetorik scheint Präsident Jelzin aber kein Interesse zu hegen, das Verhältnis zum Westen endgültig wieder auf Eis zu legen. Seine Kritik an Außenminister Kosyrew fiel scharf aus, dennoch behielt er ihn im Amt. Womöglich hat sich eine Ahnung eingeschlichen, daß selbst der geschickteste Außenminister an der globalen Rolle Rußlands nicht viel drehen kann. Klaus-Helge Donath
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