■ Immigration und Literatur Leseprobe: Nostalgia
Der Dichter und Schriftsteller Mircea Cartarescu, geboren 1956, gehört zu den wichtigsten Vertretern der sogenannten „Generation der Achtziger“, die in Rumänien Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre eine erfolgreiche Bewegung der postmodernen Literatur war. Sie richtete sich vor allem gegen den sozialistischen Realismus und trat für ästhetische Neuerungen in der Kunst ein. Ihre Vereinigung „Cenaclul de Luni“ (Der Montagskreis), gegründet 1977, wurde 1983 von der kommunistischen Partei verboten. Mircea Cartarescu studierte Philologie und ist gegenwärtig Philologieassistent an der Bukarester Universität. Sein Erzählungsband „Der Traum“, aus dem die Auszüge stammen, erschien zuerst Ende der achtziger Jahre in stark zensierter, nach dem Sturz des Diktators Ceausescus unter dem Titel „Nostalgia“ in unzensierter Form.
Plötzlich trieb mein Gedächtnis eine Erinnerung hervor: ... Ich sah die Glastür der ersten Stiege vor Augen, die so schwer aufging, die Dîmboviţa Mühle, kleine Spielzeuguhren in schmerzhaft grellen Farben und das von der Terasse aus gesehene Panorama Bukarests, das in der Nacht von rot und grün aufblinkender Leuchtreklame erhellt wurde. In schwer zu beschreibender Aufregung grub ich in wenigen Minuten aus meinem Gedächtnis Dinge aus, von denen ich überzeugt gewesen war, nichts mehr zu wissen.
Der Wohnblock auf der Ștefan-cel-Mare-Straße befand sich im Stadium der Fertigungsarbeiten ... Direkt an der Brotfabrik „Der Pionier“, als wüchse er aus ihr heraus, stand ein alter, geplagter Kastanienbaum, mit einer Betonplombe in einer seiner Höhlungen und einer rostigen, schräg zum Stamm in die ameisenwimmelnde Rinde getriebenen Eisenstange. Darauf setzten Sandu, Luci und ich unseren Fuß, um in den Baum zu klettern. Im Kastanienbaum saßen wir wie die alten Indianer zu Rate .... Nachdem Sandu, der kein Mathematiker werden sollte, uns mit der absurden Behauptung gelangweilt hatte, daß er auf ein Arithmetikbuch gestoßen war, wo Buchstaben statt Zahlen addiert, abgezogen, geteilt und multipliziert wurden, gingen wir zu ernsteren Sachen über. Ob es wohl wahr war, daß jenes kurze Wort, das wir auf den Betonzaun geschrieben oder in die Teerdichtung irgendeines Kanalrohrs geritzt fanden, bedeutete, daß alle erwachsenen Menschen ... Ich dachte über diese Dinge während der langen, qualvollen Nachmittage nach, wenn ich schlafen mußte. Das rötlich-goldene Licht füllte langsam das Schlafzimmer, spiegelte sich in der gemaserten Tür des Schrankes wider und fiel auf meine Wange. Manchmal schlüpfte ich aus den gestärkten Leintüchern, die so scharfe Kanten hatten wie weißes Glas, dabei aber so leicht waren wie Papier, und ging zum Fenster. Vor mir breitete sich bis zum Horizont das unter den Wolken erstarrte Panorama Bukarests aus, die Gruppen alter Häuser mit Hohlziegeln und Oberlichtern, mit Deckenfenstern und massiven Fichtentüren, und etwas weiter große aschgraue Bauten mit vielen Fenstern, der Wohnblock im Zentrum mit der Gallus-Reklame wie einer großen blauen Kugel obenauf, das Victoria-Kaufhaus, links der Feuerwehrwachturm, die geschwungen gebauten Wohnblocks auf der Ștefan-cel-Mare- Straße und sehr weit weg das Wärmekraftwerk mit riesigen Schornsteinen, aus denen ineinander verschlungene Dampffäden stiegen.
Auch das Gelände der Brotfabrik „Der Pionier“ wird von einem Ziegelschornstein beherrscht, höher als unser Wohnblock, der groß und rot aus den Goldmünzen der Akazienblätter in die Wolken ragt. Ich hatte ihn nie aus der Nähe gesehen, aber wie eine Federzeichnung hob sich auf seiner ganzen Höhe bis zur Spitze hinein eine Feuerleiter ab, die wie eine Luftröhre von schützenden Ringen umgeben war. In etwa dreiviertel Höhe, also etwa dem sechsten Stock unserers Wohnblocks gegenüber, sah ich an jenem Nachmittag einen gelben Fleck. Es war das Spielhöschen des neu hinzugezogen Kindes, das langsam und vorsichtig zur Schornsteinspitze stieg ... Die Mieter waren erschrocken auf ihre Balkons voller Einmachgläser und Fernsehantennen getreten und brüllten ihm zu, herunterzukommen. Aber der Mendebil stieg Sprosse um Sprosse dem äußersten Ende des Schornsteins zu. Oben angekommen, stemmte sich das Kind mit beiden Händen auf die Schornsteinkante hoch und verharrte einige Augenblicke auf allen vieren. Die Schreckensschreie der Frauen nahmen zu, und zwei Arbeiter in weißen Arbeitskitteln rannten den Hof entlang auf den Fuß des Schornsteins zu. Der Mendebil aber, wie in ostentativer Nichtachtung seiner Zuschauer, richtete sich zögernd auf. Er stand aufrecht, dünn wie ein Nagel, in schwindelnder Höhe. Er blickte nach oben, winkte aber in Richtung Erde. Dann begann er die Metallsprossen hinabzusteigen, durch die Ringe der Feuerleiter hindurch, bis er im Laub der Akazie verschwand. Wenige Zeit später, während wir durch die Rhomben des Betonzaunes spähten, den wir sofort besetzt hatten, sahen wir ihn auf uns zulaufen. Er erkletterte den Zaun mühsam und sprang mitten unter uns. Seine Wangen waren gerötet, aber sonst war sein Gesicht gelb. Er sah nur Mimi an und sagte: „Ich hab' keine Lust, Hexenhatz' zu spielen.“
Gleich am nächsten Tag erlagen wir seinem Zauber. „Ich weiß einen besseren Platz“, sagte er lächelnd. Der Ort war die erste Stiege ...
Vor etwa fünf, sechs Monaten, an meinem freien Tag, drehte ich eine Runde durch die Stadt, als plötzlich eine violette Flamme meinen Magen durchfuhr, eine nostalgische, unerträgliche Erregung. Diese packende Erregung war durch den Anblick eines ganz gewöhnlichen Wegwerffeuerzeuges hervorgerufen worden. Das hatte aber eine Farbe, die in mir gewaltsam eine Erinnerung wachrief aus der Zeit, von der ich spreche. Das Feuerzeug war von einem seltsamen, ins Lila spielenden Rosa, weich und fleischig gemasert, mit gelblichen Halbmonden im leicht gewellten Plastik. Das war genau die Farbe meiner kleinen Fünfzig-Bani-Uhr von damals. Mircea Cartarescu
Übersetzung: Bärbel Schuller
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