: Kontrolle gut, Vertrauen besser
Früher konnte man sich in der U-Bahn auch ohne Fahrschein entspannt zurücklehnen und in Ruhe die Zeitung lesen. Heute ist Schwarzfahren ein Kampf an mehreren Fronten. Aus dem U-Bahn-Schacht berichtet ■ Ole Schulz
Rein in den U-Bahn-Eingang, die Treppe runter, und schon schlägt das Herz schneller. Bloß wachsam sein, die Augen offenhalten. Jeder ist verdächtig. Am Ende des Bahnsteigs kläfft ein Hund – ist das etwa ein Köter von Wachschutzleuten, die sich hinter dem Führerhäuschen versteckt haben? Heutzutage ist alles möglich. Nur cool bleiben, schließlich hat man ja jahrelange Erfahrung. Möglichst unauffällig den Bahnhof langschlendern und auschecken, ob die Luft rein ist.
Glück gehabt – weder BVG- Blaumänner noch Hilfssheriffs sind in Sicht. Aber halt: Der Besoffski, der sich vertrauensvoll mit dem BVG-DJ unterhält, könnte das nicht doch ein Zivilkontrolleur sein? Es ist wohl besser, am Ausgang zu warten und vorsichtshalber eine U-Bahn vorbeifahren zu lassen. Mal sehen, wie es dann weitergeht.
Schwarzfahren macht keinen Spaß mehr: Früher konnte man sich in der U-Bahn auch ohne Fahrschein entspannt zurücklehnen und in Ruhe Zeitung lesen; nur wenn der Zug hielt, mußte man nach den BVGlern in blauer Kluft Ausschau halten – jetzt ist Schwarzfahren ein Kampf an mehreren Fronten.
Seit August kontrolliert die BVG nicht nur rund um die Uhr, sondern setzt auch Zivilkontrolleure ein, und die Angst geht um unter den fahrscheinlosen Glücksrittern. Manchmal kann man die zivilen Kontrollettis zwar erkennen – meist sind es drei ältere Herren, die mit Aktenkoffern bewaffnet zeitgleich durch jeweils eine der drei Waggontüren stürmen – und schafft gerade noch den rettenden Satz aus dem Abteil. Die BVG hat aber gelernt und setzt verstärkt Zivis ein, die auch als Touristen oder Gammler durchgehen würden.
Die „Schaffner im Kontrolldienst“, so heißen die Kontrolleure offiziell, werden bei Bedarf durch die blaugrau uniformierten Mitarbeiter des Industrie- und Handelsschutzes (IHS) unterstützt. Die gezielten Kontrollen des Wachschutzes sind besonders unangenehm.
Denn nichts ist erniedrigender, als wenn die Hilfssheriffs einen als einzigen im Abteil überprüfen, weil man mit den halblangen Zotteln samt Dreitagebart eben wie ein mutmaßlicher Täter aussieht, und dann hat man tatsächlich keinen Fahrschein dabei.
Schließlich trat die BVG das Geldeintreiben auch noch an die private Wirtschaft ab. Die Inkassofirma „Schimmpelpfeng“ sitzt in Frankfurt am Main und schlägt eine härtere Gangart ein als die „Abteilung Absatzwirtschaft“ der BVG: Wer die Zahlungsfrist von zwei Wochen nicht einhält, muß statt des „erhöhten Beförderungsentgelts“ von 60 Mark nun gleich 140 Mark blechen.
Und zu guter Letzt hat die BVG im August auch Schwerpunktkontrollen in Bussen und Straßenbahnen eingeführt. Zur Abschreckung werden die Routen, auf denen die BVG Schwarzfahrer jagt, im Radio angekündigt – damit ist jeglicher Nervenkitzel verlorengegangen.
Allerdings gelten beim Schwarzfahren immer noch zwei Grundregeln. Vorsatz Nummer 1: Wird ein Konti gesichtet, sofort die Flucht nach vorn ergreifen, sich als dummer Touri ausgeben und nach dem Weg fragen – das klappt fast immer.
Vorsatz Nummer 2: Wird man trotzdem erwischt, immer sagen, man hätte seine Monatskarte vergessen. Dann rückt die Oma nebenan nicht mehr entsetzt von einem ab, und die Kontis behandeln einen nicht weiter wie einen Schwerstverbrecher. Ob die Kontis eher vorne oder hinten in die Züge einsteigen, darüber streiten sich die selbsternannten Experten nach wie vor.
Fragt man professionelle Schwarzfahrer, warum sie nicht gewillt sind, die paar Mark für eine Fahrkarte zu berappen, sagen viele, aus einer pubertären Masche sei längst eine Überzeugungstat geworden: Für den Nulltarif in öffentlichen Verkehrsmitteln und wider staatliche Zwangsabgaben, lautet ihre Forderung. Bestünde keine Verpflichtung, wären sie natürlich bereit, entsprechend ihrer Möglichkeiten, freiwillig einen Obolus in Gestalt von ein paar Klimpermünzen zu entrichten. Außerdem ist die BVG keinesfalls billig: Sie erhöht ihre Preise von Jahr zu Jahr deutlicher, als die Inflationsrate steigt, weil sie in einer Finanzmisere steckt. Die Probleme sind jedoch zumindest teilweise hausgemacht: Nicht zuletzt wegen der hohen Preise mußte die BVG im vergangenem Jahr als fast einziger der großen Verkehrsbetriebe in Deutschland einen Rückgang der Fahrgäste hinnehmen.
Dagegen sind die Schwarzfahrerzahlen seit letztem Herbst kontinuierlich angestiegen, berichtet die BVG. Sie erklärt sich diesen „bundesweit zu beobachtenden Trend“ damit, daß sich „die Einkommenssiutuation des einzelnen Bürgers verschlechtert hat“. Jeden Monat fallen rund 20.000 illegale Fahrgäste in die Hände der BVG- Häscher.
Dennoch kostet das neue Anti- schwarzfahrerkonzept der BVG mit rund 20 Millionen pro Jahr einige Millionen mehr als der Schaden, der durch die ertappten Umsonstfahrer entsteht. Ohne den vorige Woche mit dem Senat ausgehandelten „Verlustausgleich“ würde die BVG allein 1995 1,2 Milliarden Mark Schulden anhäufen – auch mit einer besseren Zahlungsmoral ihrer Kunden ließen sich die leeren Kassen der BVG wohl kaum wieder füllen.
Schon vor Jahren hatten einige Vorreiter des Nulltarifs die Idee, eine Schwarzfahrerversicherung zu gründen, privat organisiert und selbstverwaltet – das wäre eine revolutionierende Neuerung im überlasteten Sozialstaat Deutschland gewesen.
Die BVG setzt statt dessen auf Abschreckung und denkt auch schon mal daran, ob sie feste Schleusen an den U-Bahnhofeingängen installieren sollte. Sie würden das Schwarzfahren nahezu unmöglich machen. Doch dem Finanzloch sei Dank: Die immensen Kosten von rund 400 Millionen Mark halten die BVG noch von der sicherheitstechnischen Aufrüstung ab.
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