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Der große Bruder ist kleiner geworden

Vier Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion kehrt in Georgien endlich so etwas wie Normalität ein: Das Land hat eine demokratische Verfassung, der Einfluß Rußlands schwindet  ■ Aus Tbilissi Klaus-Helge Donath

Soso Pawliaschwili schluchzt einen Ohrwurm ins Mikro, auf russisch. Die Fangemeinde nimmt es dem Liebling nicht übel. Wenigstens einmal ist er nun zum Greifen nah. Soso, Georgiens Schlagersternchen, wohnt eigentlich in Moskau, wo sich gut verdienen läßt. Einige tausend Fans haben sich vor der Philharmonie in Tbilissi eingefunden. Heute gibt es ihn umsonst. Auf den Balkons des Iverija-Hotels drängeln sich Schaulustige, Vertriebene aus Abchasien, der nach Unabhängigkeit von Georgien strebenden Provinz.

Soso ist extra angereist, um den Wahlkampf der „Bürgerunion“, des Bündnisses also, das Staatschef Eduard Schewardnadse anführt, zu eröffnen. Am 5. November sollen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen stattfinden. Seit Amtsübernahme im März 1992 hatte der frühere sowjetische Außenminister mit seiner „russischen Vergangenheit“ zu kämpfen. Die Opposition sah in ihm einen Handlanger Moskaus. Die Dinge haben sich gewandelt. Zwar wirft man Schewardnadse gelegentlich vor, sich allzu willfährig den Wünschen des russischen Nachbarn zu beugen, doch von Verrat ist nicht mehr die Rede. Drei Jahre lang lenkte er das in Seenot geratene Staatsschiff, ohne daß die Russen über den Kaukasus vorgerückt wären.

Der bedrohliche „große Bruder“ jenseits der Berge hat wieder menschliches Maß angenommen. Ein Zeichen von Normalisierung und gewachsenem Selbstbewußtsein. Georgien hat sich inzwischen eine Verfassung gegeben, die eine Mischform aus parlamentarischer und präsidialer Demokratie vorsieht. „In zwei, drei Jahren sind wir über den Berg“, meint Konzertbesucher Dato. Selbst das jahrelange Hauptthema „Abchasien“ spielt keine große Rolle mehr. Man hofft, daß Moskau die Abchasen dazu bewegt, die in der neuen Verfassung vorgesehene „Föderalisierung“ zu akzeptieren.

Auf den ersten Blick gleicht die politische Landschaft den unübersehbaren Tälern und Mulden der bizarren kaukasischen Bergwelt. An die zweihundert Parteien sind registriert, viele davon Einmannbetriebe. Eine Reihe nationalistischer Gruppierungen schloß sich mit Monarchisten, Sozialdemokraten, Anhängern des verjagten Präsidenten Gamsachurdia und Faschisten zusammen.

Die radikale nationalistische Opposition hat keine Aussichten auf größeren Erfolg. Zu häufig hat sie sich seit der Unabhängigkeit 1991 diskreditiert. In jüngster Zeit versucht der in Ungnade gefallene ehemalige Vertraute Schwewardnadses, Dschaba Joseliani, eine politische Unterfütterung für seine paramilitärischen Einheiten, die „Mchedrioni“, zu finden. Sie sicherten Schewardnadse anfangs die Macht. Danach dezimierten sie sich im Krieg um Abchasien. Was von ihnen übrigblieb, spielte eine zwielichtige Rolle im Grenzbereich zum kriminellen Milieu. Nach dem mißglückten Attentat auf Schewardnadse Ende August wurden Drahtzieher der „Mchedrioni“ festgenommen und Joselianis Büro durchsucht. Ein Zusammenhang zum Attentat konnte nicht nachgewiesen werden.

Die Abchasien-Krieger haben keine Chance

Längst hatte sich Schewardnadse den anrüchigen Joseliani vom Halse schaffen wollen, doch die Sympathien, die der Warlord mit seinen Militärs im Volk genoß, ließen ihn zögern. Ihn auszuschalten wäre gefährlich gewesen. Ihre kriminellen Umtriebe brachten sie dann aber allmählich in Verruf. Schewardnadse nutzte die Gelegenheit. Drogen, Waffen und Geld, die in Joselianis Arbeitszimmer aufgetan wurden, bestätigten das Bild.

Auf Rückhalt eines maßgeblichen Teils der Wählerschaft kann der Warlord heute nicht mehr setzen. Joseliani selbst ließ der Präsident verschont. „Aus alter Verbundenheit vielleicht“, vermutet Irina Saraschwili-Dschanturia, Witwe des im letzten Jahr ermordeten Vorsitzenden der Nationaldemokratischen Partei (NDR). Die NDR hat gute Aussichten auf mindestens ein Viertel der Wähler. Gehen mußten dagegen der Sicherheitsminister und der Vorsitzende des Geheimdienstes. Die Etagen der Macht sind nunmehr gesäubert. In einem Akt der Vorwärtsverteidigung kündigte Joseliani seine Kandidatur um das Präsidentenamt an.

Weitaus größere Wahlchancen haben die Kommunisten mit ihrem Chef Dschuber Pateaschwili. Als die Russen am 9. April 1889 in Tbilissi eine Kundgebung niedermetzelten, trat der damalige Sekretär der KP zurück. Über ideologische Grenzen hinweg verschaffte er sich Achtung. Die katastrophale Wirtschaftslage Georgiens, das während sowjetischer Zeit keinen Mangel kannte, bringt ihm nun weiteren Aufwind. Besonders die ländlichen Regionen, wo die Landwirtschaft brachliegt und die Industrie keine Rohstoffe erhält, wurde von einer Nostalgiewelle erfaßt.

Allerdings konkurrieren mehrere linke Parteien um die Gunst der Wähler. So repräsentieren die Kommunisten unter Vorsitz Panteleimon Georgadses die prorussischen Kräfte, die für eine Vereinigung mit Moskau sind. Pateaschwili nimmt auch an den Präsidentenwahlen teil. Umfragen setzen ihn auf Platz 2 hinter Schewardnadse. Schon jetzt aber scheint klar, daß der Staatschef im zweiten Wahlgang das Rennen macht. Nach dem Attentat sind seine Chancen besser denn je.

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