Des Camorristen Abstieg

Die „Selbstreinigung“ Neapels bringt die Gangster zur Verzweiflung. Keines ihrer Geschäfte läuft mehr, weder legal noch illegal, seit der neue Bürgermeister Bassolino mit seiner Softie-Welle die Stadt kontrolliert  ■ Von der „Spaccanapoli“ Werner Raith

Auf seine drei kleinen Sterne zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand war Domenico, genannt Mimmo, immer sehr stolz gewesen: „Das war wie eine Visitenkarte“, sagt er, „wenn du die in der Kneipe auf die Theke geknallt hast und der Mann dahinter hat die Sterne gesehen, hast du nichts bezahlt.“ Freilich galt das nur im „quartiere“, im eigenen Stadtviertel, oder wenig darüber hinaus. Doch für einen Straßenjungen wie Domenico, damals wenig älter als 18, war die Aufnahme in eine der „cosche“, der neapolitanischen Banden, in den siebziger Jahren schon eine tolle Sache: „Plötzlich war man wer, die Leute grüßten einen, wenn sie einen vorher vor ihrem Laden vertrieben hatten.“ Zwar hat er es nie zur respektablen Anrede „Don“ gebracht, aber „es hat sich keiner an dich herangewagt. Jeder wußte, wen er vor sich hatte.“

Verdankt hat er das alles zunächst seinem Schulkameraden Remo, der ihn mit einem kleinen Camorra-Capo bekannt gemacht hatte, nachdem beide in Folge eines „mickrigen Straßenraubs“ ins Jugendgefängnis gekommen waren. Der kleine Boss, der Domenico rekrutierte, gehörte zur Großorganisation des Don Rafele, bürgerlich Raffaele Cutolo, Gründer der Nuova Camorra organizzata. „Der hat es geschafft, aus dem Knast heraus eine Organisation aufzubauen, die uns allen Arbeit verschafft und die uns versorgt hat, auch die Verwandten von Leuten, die eingesperrt wurden, und auch Unternehmer, die aus irgendeinem Grund bei der Gemeinde in Ungnade gefallen waren. Und er hat uns vor der Konkurrenz bewahrt.“

Goldene Zeiten. Doch nun, mit weit über Dreißig, steht Domenico „ziemlich alleine“ da. Die Organisation, die zeitweilig einmal bis zu viertausend schießbereite Kerle, wortgewandte Advokaten und Geschäftsleute umfaßt hatte, ist sowieso längst zerbröselt, kaputtgegangen unter den Schlägen der Gegengruppierung Nuova famiglia und einigen eingesickerten mafiosen Clans aus Palermo.

Zwar hatte sich Domenico rechtzeitig unter die Fittiche eines anderen Großen der Branche begeben, des Carmine Alfieri. Doch inzwischen ist der verhaftet worden – und packt zum Entsetzen seiner Mitläufer vor der italienischen wie der deutschen, französischen, Schweizer und russischen Polizei aus, zusammen mit seinem Lieblingskiller Mario Cuomo, der achtzig Morde gestanden hat. Domenico mußte erneut wechseln.

All das hat ihm zunächst wenig ausgemacht: „Das ist nicht wie in Palermo, wo ein zerbrechender Clan von der ,Cupola‘, dem Leitorgan, unter eine Art Kommissariat gestellt wird“, sagt er, „oder wo die restlichen Mitglieder zusammengeschossen werden: Neapel ist viel liberaler, da kann jeder seine Gruppe wechseln.“

Nein, das ist es also nicht, was ihn so bedrückt. Was ihm wirklich zu schaffen macht, zeigt er beim Spaziergang durch die Via Benedetto Croce, einem Teil der „Spaccanapoli“, jener Straßenachse, die den westlichen Teil der Hauptstadt am Vesuv in Oberstadt und Hafenbereich zerschneidet: „Siehst du, wie die Leute herumlaufen? Mit der Handtasche sorglos am Gelenk, Schmuckkettchen um den Hals, Fotoapparat seelenruhig an der Brust baumeln.“ Domenico wird kribblig, früher, ja früher, da hätte er schon längst..., aber „siehst du da hinten die zwei Typen mit den neckischen Handtäschchen?“ Touristen, so scheint es. „Bullen“, sagt Domenico, „solche, die bloß dazu da sind, uns das Leben schwerzumachen.“ Weiter vorne sieht er weitere zwei, und ein schräg geparkter alter Fiat 1000 gilt ihm schon von weitem als „Vorposten der Videoüberwachung“.

Aus dem Fond des Fiats heraus grüßt ihn freundlich ein älterer Herr und macht gar keine Anstalten, die Videokamera zu verstecken: „Na, Mimmo, alter Pensionär, wie geht's?“ Domenico beißt sich auf die Lippen. „Schwule Sau“, murmelt er kaum hörbar.

Tatsächlich ist Neapel kaum wiederzuerkennen. In weniger als zwei Jahren hat der neue Oberbürgermeister Antonio Bassolino, ein vordem nur wenigen bekannter ehemaliger Gewerkschaftsvordenker und erstes direkt gewähltes Stadtoberhaupt, aus der einst dreckigen, vor Straßenräubern geradezu wimmelnden Stadt eine recht angenehme Metropole des Südtourismus gemacht: lärmend zwar immer noch, also ohne ihre Identität zu verlieren, aber doch so, daß man nicht alle paar Schritte einen Überfall gewärtigen muß oder über faulende Abfallhaufen fällt.

Das muß selbst Domenico anerkennen: „Sauberer ist es, sicher, der Müll ist weg, der Gestank und viele Trümmer aus der Nachkriegszeit auch. Und er hat Geld in die Stadt gebracht.“ Doch leider, leider – „Wie hat er das gemacht? Wem hat er das Geld gegeben?“ Domenico drängt aus der Piazza San Domenico hinauf in das Straßengewirr des „spanischen Viertels“: „Sieh dir diesen Palast an“, sagt er und zeigt auf ein Gebäude, vor dem Baugerüste stehen: „Dreihundert neapolitanische Familien hätten ein Jahr satt werden können, hätte er uns diesen Auftrag gegeben.“ Doch Bassolinos Administration hat strengste Regeln für die Auftragsvergabe festgelegt, und keine der Firmen, mit denen Domenico zusammenarbeitet – „höchst ehrenwerte Firmen, einige extra für die neuen Aufgaben gegründet“ –, hat die Aufträge bekommen, „bloß weil der eine oder andere mal einen Strafprozeß am Hals hatte“.

Er zieht weiter: „Da vorne, die Müllabfuhr, die war einst unsere Sache, nun hat sie eine auswärtige Firma übernommen. Nichts zu machen.“ Dabei hatten die wütenden vorherigen Müllner allerhand versucht – wochenlang mußte jeder Abfuhrwagen von der Polizei eskortiert werden, weil es Bombenanschläge gegeben hatte. „Irgendwie ist dieser Scheiß-Bassolino immer am längeren Hebel.“

Bei Domenico zu Hause sehen das alle so: Mutter Chiara, eine dickliche, gestandene Neapolitanerin aus dem Vorort Secondigliano, bei der man schon von weitem schmackhafte Pizza Margherita zu riechen meint, droht mit dem Kochlöffel in die Richtung, in der sie das Rathaus vermutet: „Was ist das für ein Familienvater, der seine eigene Familie verkommen läßt?“

Bruder Gennarino – die Verkleinerungsform hebt ihn ab von seinem Erzeuger, Gennaro, obwohl er im Gegensatz zu seinem eher mickrigen Vater fast zwei Zentner auf die Waage bringt – schmatzt ein Stück Kutteln in Tomatensoße hinunter und fügt mit regelrechtem Ekel im Gesicht ein „Schweine alle, diese Politiker“ an.

Domenico rechnet vor: „Verloren haben wir alle Bauaufträge und alle Dienstleistungsgeschäfte. Was bleibt uns da noch? Genau das, was dieser Scheißkerl doch angeblich ausrotten will, die rein kriminellen Tätigkeiten, Schmuggel, Schutzgeld, Drogen.“ Daß das auch schon vor Bassolino die Hauptgewerbezweige waren, gesteht Mimmo mit einem Schulterzucken ein und holt sich mit seinem Brot noch etwas Soße aus dem Topf: Derlei Argumente zählen für ihn nicht.

Etwas später, in der Bar Centrale, stellt er einige Freunde vor: „Das ist Carlo, dem unterstand einst die Via San Sebastiano“, ein für illegale Tätigkeiten vom Glücksspiel bis zur Prostitution frugales Einzugsgebiet, „heute muß er als Hilfsarbeiter jobben. Das ist Paolo. Der hatte ein Fuhrunternehmen, jetzt ist ihm noch ein Lastwagen geblieben – und den haben sie ihm beschlagnahmt, weil er angeblich geschmuggelte Zigaretten drauf hatte.“ Überhaupt, der Zigarettenhandel: „Davon haben 30.000 Familien in Neapel gelebt, und der Bürgermeister hat seine Bullen losgeschickt, um die armen Kinder zu vertreiben, die auf den Straßen die Stangen angeboten haben.“ Gerardo, einem weiteren Bar-Kumpan Domenicos, wurde gar angedroht, daß er das Sorgerecht über drei seiner Söhne verlieren würde, wenn er sie weiter zum Zigarettenverkauf auf die Kreuzungen schicken würde. „Und weißt du, wie die das begründet haben? Mit der Sorge um die Gesundheit der Kinder“, er kann sich gar nicht genug ausschütten vor Lachen, „weil die da schlechte Luft atmen. Als ob's in Neapel irgendwo gute Luft gäbe.“

Domenico hat eine Idee: „Der Bassolino behauptet doch immer, die Luft sei jetzt viel besser als vorher – da könnten die Kinder doch wieder zum Verkaufen losziehen?“ Gelächter. Doch kurz danach wieder Katzenjammer. Wie konnte all das nur geschehen? „Der hat uns ausgebootet und andere Leute, die auf der Straße lagen, eingestellt, und für einige Zeit sind die halt ehrlich“, bedauert Carlo, „aber die werden's schon noch lernen. Denn wo der ein Loch stopft, reißt er andere Löcher auf.“

Tatsächlich, so murren mittlerweile auch die lokalen Tageszeitungen, scheint sich der „G-7-Effekt“ – der Schub im Umfeld des Weltwirtschaftsgipfels vom Vorjahr – mittlerweile zu erschöpfen. „Jetzt muß er wieder mit Wasser kochen“, hofft Domenico, „und das wird ihm das Kreuz brechen. Bassolinos Behauptung, er habe inzwischen neue Strukturen geschaffen, die von der Camorra und anderen kriminellen Organisationen nicht mehr geknackt werden könnten, erregt nur müdes Lächeln: „Wäre das erste Mal, daß wir das nicht schafften“, macht sich Gerardo Mut. Das Problem, das alle sehen, liegt in der eher weichen Linie, die Bassolino fährt: „Wenn der wenigstens richtig autoritär reinhauen würde, da wären wir stärker“, meint Carlo, „aber dieser Softie bringt's immer wieder fertig, so zu tun, als sei er für alle da.“ Allerdings zeigen sich erste Risse im Konzept Bassolinos. „Zwei, drei Jahre kann er die zusätzlich eingestellten Polizisten und Beamten noch halten“, prognostiziert Carlo, „aber dann sind Neuwahlen, und da kriegt er die Quittung von denen, die er ausgebootet hat.“

Domenico ist da nicht so sicher. Heimlich, sagt er beim Abschied, habe er schon mal daran gedacht, die drei Sterne auf seiner Hand wegzuätzen oder durch ein anderes Symbol zu ersetzen. „Aber welches?“ fragt er verzagt. „Derzeit kämpfen auch unsere Gruppen nur noch gegeneinander, nie miteinander, und da kann man leicht schreckliche Fehler machen.“ Camorrist sein ist eben auch nicht leicht. Zumindest nicht in den Zeiten der Bassolinos.