: Nachschlag
■ Mit Johnny Cash und Anhang durch die amerikanische Nacht
Das angegraute Idol im Tempodrom Foto: Roland Owsnitzki/Votos
„Da ist er ja schon, der alte Sack“, raunzt ein Typ, der mit langer Fransenjacke und Stetsonhut Richtung Zelteingang fegt. Hart, aber herzlich gehen Cowboys aus Britz oder Neuruppin mit ihrem Idol um. Der weiße Mann in den schwarzen Klamotten ist zurück und diesmal spielt er nicht im piefigen ICC, sondern im Tempodrom. Spätestens seit seinem letzten, grandios schlichten, von Rick Rubin produzierten Album „American Recordings“ aber lockt Cash nicht mehr nur Möchtegernreiter an.
Schon um sieben vor Acht steht er plötzlich auf der Bühne, als wolle er versuchen, möglichst viele seiner fast 1.500 seit 1958 eingespielten Songs an einem Abend unterzubringen. „Hello, I'm Johnny Cash“, sagt er als sei's Ironie, grinst und macht eine ruckartige Bewegung mit dem Finger. Cash ist einfach da, er sitzt nicht im Knast, wie letztes Jahr noch. Endlich lernt man den, dessen Stimme man als Kind nachts im Radio hörte, persönlich kennen. „On a Sunday Mornin' Sidewalk“, „Ghostriders in the Sky“, „Ring of Fire“: Cash und seine Gitarre docken für uns irgendwo im amerikanischen Kosmos an. Wir brauchen uns nur einzustöpseln, dann sind wir on the road. Er lenkt uns durch die Nacht, zurück in die Kindheit. Der Beipackzettel zu seinen „American Recordings“ ist ein handschriftlich krakeliges Tagebuch, das als amerikanische Oralhistorie funktioniert: „Ich weiß nicht, ob meine Mutter eine gute Gitarristin war ...“ Die Gitarre als ständige Begleiterin, als zeitweiliger Vaterersatz? „Die Gitarre kam mit uns in einem Umzugswagen aus den Bergen des südlichen Arkansas nach Mississippi. Es war Februar 1935 und ich war drei Jahre alt.“ Schon mit vier singt Cash laut eigener Erinnerung gemeinsam mit seiner Mutter Gospels. Die Familie bastelt am amerikanischen Mythos, wie gewöhnlich ein hartes Stück Arbeit: Der Vater und Johnnys Bruder machen den Dschungel urbar. Panther brüllen.
Im Konzert begleiten den angegrauten Cash nicht nur sein ewiger Schlagzeuger, sondern auch sein Sohn John Carter Cash und seine Frau, die Countrysängerin June Carter. Die Fortschreibung der Familiengeschichte bis auf die Bühne ist nicht ganz unproblematisch, nach drei Solostücken des Sohns erste leise Pfiffe, man will ja den Papa nicht verärgern. Und auch als seine im Burgfrauenoutfit verschnürte Frau die Bühne verläßt, atmet man auf. Aber der Blackman himself läßt uns nicht im Stich, singt wie von sich selbst berauscht weiter. Dann eine Art Kuß, mit eckiger Handbewegung von der Bühne geworfen und eine letzte Botschaft, die klarmacht, daß wir jetzt wieder eine Zeitlang allein unseren Weg gehen müssen: „Wir sehn' uns, wenn ich wieder mal in der Stadt bin.“ Andreas Becker
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