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Lehrpfad deutscher Fachwerkkunst

Quedlinburg – Portrait einer mittelalterlichen deutschen Stadt  ■ Von Norbert Thomma

Nur der Nachtwächter fehlt noch. Er könnte aus einer der dunklen Gassen auf den weiten Marktplatz treten und mit seinem schweren, mit Eisen beschlagenen Stock auf das Pflaster bollern, um damit anzuzeigen, daß er auf dem Posten ist. Müßte wie ehedem zur vollen Stunde seinen Vers singen: „Hört, ihr Herrn, und laßt euch sagen...“

Dann würde sein Blick auf das Rathaus mit der Rennaisance-Fassade fallen, alles liegt ruhig; auch bei den angrenzenden, imposanten Fachwerkhäusern regt sich nichts – sein Rundgang dürfte weiter gehn. Und mit Anbruch der Dämmerung wäre jener Dienst zu Ende, der ihm 1840 einen Jahrlohn von 96 Talern aus der Kämmerei- Kasse einbrachte.

Den Weg nach Hause fände der Nachtwächter auch heute noch. Er würde sich dabei allenfalls über die Autokarossen und seltsame Läden wundern, über ein paar Jugendstilgebäude aus massivem Stein und die elektrischen Lampen; aber sonst?

Eine Reisebeschreibung von damals: „Die Stadt Quedlinburg ist umgeben von einem Mauergürtel, über den nur schüchtern ein paar Häuser hinausgewachsen sind. Ihr verträumter Markt, ihre engen, gewundenen, winkeligen Gassen und Gäßchen, ihre eigenartigen Holzbauten...“

So war es und so ist es.

Die Spaziergänge sind wie ein Lehrpfad norddeutscher Fachwerkkunst, Streifzüge durch die Jahrhunderte, Blättern im bunten Bilderbuch. Man trägt die Nase oft ziemlich hoch beim Flanieren übers Kopfsteinpflaster (Vorsicht! Über hohe Absätze freut sich der Orthopäde!), um ständig neue Entdeckungen zu machen: krumme Balken, schiefe Fenster, geschnitzte Wappen, Ornamente, Fächerpalmetten, verzierte Balkenköpfe, vorstehende Geschosse, V- und X-förmige Streben, Erker, Rosetten, farbig bemalte Schiffskehlen und Zopfbänder.

Kein Haus wie das nächste, kein First auf einer Höhe wie der andere, kein Dach im selben Winkel wie das benachbarte. Immer wieder sind Inschriften im Gebälk, fromme und besinnliche: Gott alleine die Ehr der wird uns erhalten bei Christi reiner Lere. Wer baut an Strassen muss Narren reden lassen.

Die ganze Stadt ein Flächendenkmal, 90 Hektar groß, über 1.200 Fachwerkhäuser fügen sich zu einer wunderschönen mittelalterlichen Bühne. Und irgendwann spürt der neugierige Tourist vom vielen Schauen über die Fassaden, was sonst nur Radrennfahrer auf langen Strecken kennen: Verspannungen im Nacken.

Ein ruhiger Ort ist das, mit einem langsamen Pulsschlag. Die holprigen und schmalen Wege verbieten jede Hektik für Mensch und Gefährt, der Markt und einige Gassen sind für Autos gar nicht passierbar. Hier können die Leute noch völlig ungestört mit ihren Einkaufstaschen stehen und endlos plaudern.

Warum auch hetzen? – nichts hier ist weit entfernt. Schon die Straßennamen zeugen von Betulichkeit: Zwergkuhle, Unter dem Birnbaum, Mummental, Wasserwinkel, Konvent...

Aufbau und Zerfall. Das Haus Nr. 12/13 in der Schmalen Straße steht wie der letzte Zahn in einem verfaulten Mund. Ein wuchtiger Bau, weiß getüncht mit dunkelbraunen Balken, 1977 von polnischen Fachkräften restauriert. Daneben gehen ganze Häuserzeilen vor Schwäche in die Knie, sacken langsam in sich zusammen. Manche werden gestützt von schräg gestellten Hölzern, als gingen sie an Krücken.

Die Abrißbirne hat hier Mitte der achtziger Jahre breite Breschen geschlagen, denn nur das Neue galt der DDR als fortschrittlich und schön. Hunderte von Häusern waren zur Notschlachtung vorgesehen, um Platz zu machen für „Ersatzneubauten HBMQ“, wie es im sozialistischen Bürokratendeutsch hieß – die „Hallesche Monolith-Bauweise Typ Quedlinburg“.

Dann kam die Wende und das Abrißverbot, und wer sich heute umschaut, sieht an allen Ecken den Wettlauf mit der Zeit.

Am Markt das große Hotel „Zum Bär“. Ein ehrwürdiges Schild von 1748 überm Eingang sagt, das Haus sei „seit 1618 als Herberge bekannt“. Neben der Tür auf einem Stück Pappe steht „Wegen Umbau geschlossen“. Seit Jahren liegt der Bär im Winterschlaf, droht er als Spekulationsobjekt zu verenden.

Ein paar Schritte weiter, neben dem Fachwerkmuseum in Quedlinburgs ältestem Haus aus dem 14. Jahrhundert, ein altes Adelsgut. Für den „Fleischhof“ kam die Wende zu früh: Er war als Jugendherberge geplant, der Ostflügel bereits fertig restauriert; nun steht die Tür offen, sind die Fenster eingeschlagen, und nur der wuchtige Taubenturm auf seinem runden Steinsockel trotzt im weitläufigen Hof dem Niedergang.

Der Weg vom Zentrum der 25.000-Seelen-Stadt zum Schloßberg dauert nur wenige Minuten und zeigt sich, wie ihn schon die Ausflügler in Theodor Fontanes Roman „Cecile“ beim Ansteigen erlebten: „malerisch-mittelalterliche Häuser, die nesterartig zu beiden Seiten der Straße kleben“. Wo diese sich zum Platz weitet, können sich die vom Pflastertreten müden Beine im „Café am Finkenherd“ erholen. Der Blick durchs Fenster aufs gelbe Klopstock-Haus, einen schönen Patrizierbau, der seit hundert Jahren als Museum für den Dichter dient.

Die Leiterin klagte noch kürzlich, das Denkmal würde „nur noch durch die Farbe zusammengehalten“. In den Tonnengewölben des Kellers hängt faustgroß der Schimmel, tropft Wasser – nun hat die Restauration begonnen. Nebenan wird für zig Millionen Mark die Lyonel-Feininger-Galerie erweitert und ein „multifunktionales Kulturzentrum“ erstellt – wenn ein Sponsor für die galoppierenden Kosten gefunden wird.

Die Stadt ist in Bewegung, und vieles verändert sich schneller, als Reiseführer gedruckt werden können. Beim Besuch vor einem Jahr waren in der zeitgeschichtlichen Ausstellung im Schloß die Schautafeln durch Besuchergraffiti ergänzt. „Die Politik Heinrichs I. war diktiert von der Notwendigkeit, die Einheit aller Angehörigen der herrschenden Klasse herzustellen.“ Stimmt! – Marx – Was sollen diese sozialistischen Ausdrücke? ist handschriftlich angefügt worden.

Nun sind die Exponate geordnet, Texte erneuert und die prächtig renovierten Repräsentationsräume des einstigen Damenstifts fürs Publikum geöffnet; inklusive des güldenen Zimmers der Pröbstin Aurora von Königsmark, die die Mätresse von August dem Starken war und mit den anderen Damen hier bei Billard und Roulette gern ein Spielchen wagte.

Nebenan im romanischen Dom St. Servatius ist schon länger alles auf Dauer gerichtet. Im September vor zwei Jahren wurden die beiden Schatzkammern eingeweiht, in denen einer der kostbarsten Kirchenschätze des Mittelalters ruht – gerade rechtzeitig zum 1.000jährigen Stadtjubiläum 1994. Reich verzierte Reliquiare aus Bergkristall und Straußenei, ein Kamm Heinrichs I., Evangeliare mit Edelsteinen und Elfenbeinschnitzereien und vieles mehr – die PR für all diese Preziosen war international und für Quedlinburg gratis: als durch einen aufsehenerregenden wie dubiosen Kunstschacher zehn lange verschollene Teile des Schatzes zurückkamen.

Der amerikanische Wachsoldat Oberleutnant Joe T. Meador hatte sie in den Wirren des Kriegsendes mitgehen lassen und per Feldpost nach Texas spediert. Als seine Erben die unschätzbaren Stücke verhökern wollten, begann ein Gefeilsche von Händlern, Auktionshäusern und Stiftungen; Kaufpreis letztendlich: 6 Millionen Mark. „Finderlohn“ war die euphemistische Formel dafür, an den Erben blieb eine ordentliche Summe hängen. Noch immer ermittelt das FBI.

So steht man nun andächtig vor den Glaskästen mit ihrem glitzernden Inhalt, Mahnmale gleichsam für die Erkenntnis: Diebstahl lohnt sich doch! Die Domführerin erzählt nichts von dieser hübschen Räuberpistole, wenig auch von Himmlers SS, die hier Heinrich I. als Reichsgründer feierte.

Gern berichtet sie von der mythologischen Bedeutung der Kapitellreliefs, von Grabinschriften und allerlei Heiligen, bis die Namen wie Hummeln schwirren, von Otto dem Kahlen... – es kann auch Karl der Hemdsärmelige gewesen sein, wer kann sich das merken?

Draußen im „Schloßkrug“ gibt es Bier und Brotzeit, bei gutem Wetter auch im Garten. Wie aus dem Legokasten gebaut liegt die Stadt einem zu Füßen mit ihren Kirch- und Wehrtürmen und den winkeligen roten Ziegeldächern, die zu einer Kette von Zahlen und Fakten zusammenschnurren: In den nächsten drei Jahren gehen etwa 250 Häuser verloren; 20 Prozent der Gebäude stehen leer; 30 Prozent ungeklärte Eigentumsrechte, pro Haus sieben bis acht Anträge; eine Milliarde Mark Fördermittel würde benötigt.

Das hat der Baudezernent Rolf Langhammer gesagt, und auch: „Wir müssen uns von dem Traum verabschieden, alles zu erhalten.“

Schade ist das, aber kein Fiasko. Es wird immer genug zu bestaunen geben in dieser pittoresken Wundertüte voller Sehenswürdigkeiten und historischer Kleinodien, von denen viele beim eiligen Besuch verborgen bleiben.

Ein nächtlicher Streifzug durch Quedlinburg und sein besonderer Reiz. Die imitierten Schinkel- Laternen werfen fahles Licht, die Fassaden haben keine Farben mehr. Das Gasthaus zur Sonne steht so krumm, man möchte es mit den Händen abstützen. Die 72 Meter hohen Türme der Nikolaikirche ragen schwarz auf wie eine Bergwand, es schwindelt einen beim Blick nach oben. Und in den umliegenden engen, verwinkelten Straßen lehnen die Häuser aneinander wie schlafende Trunkenbolde, die bald nach vorn, bald zur Seite zu kippen drohen.

Wer ganz leise ist, hört sie schöne Geschichten von früher erzählen.

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