: Tausendundein Zitat
■ Neu im Kino:“101 Nacht – Die Träume des Monsieur Cinéma“/Frankreichs Beitrag zum 100sten Geburtstag der 7. Kunst
„100 Jahre Film? Was gibt es denn da schon groß zu feiern?“ fragt Jean-Luc Godard seinen alten Freund Michel Piccoli in dem Video, das er anläßliche dieser Festivitäten für das Britische Film Institut drehte. Und dieser versucht in den nächsten 60 Minuten, auf hohem intellektuellen Niveau das Geburtstagskind gegen die boshaften Anfeindungen Godards zu verteidigen.
Es bleibt Piccoli auch kaum etwas anderes übrig, denn in Agnes Vardas neuem Film „101 Nacht – die Träume des Monsieur Cinéma“ verkörpert er ja selber diese jüngste und doch schon in die Jahre gekommene Kunst. Als Monsieur Cinéma lebt er in einem alten Schloß. Er ist als 100jähriger ziemlich wunderlich und schon beängstigend vergeßlich, und deshalb engagiert er eine junge Filmstudentin, die ihm zusammen mit seinem italienischen Freund Marcello Mastroianni dabei helfen soll, sich all die Filme, Regisseure, Stile, und Stars seines Lebens wieder in Erinnerung zu rufen.In dieser Villa ist alles möglich: internationale Stars geben sich die Türklinke in die Hand, bei Gesprächen über das Kino tauchen aus dem Nichts immer jeweils die genau passenden Filmzitate auf, und die Gebrüder Lumière erscheinen Monsieur Cinéma in schwarzen Anzügen, die mit leuchtenden Glühbirnen garniert sind. Agnes Varda hat den Film so offen konstruiert, daß sie alles hineinstopfen kann, was ihr zum Thema Kino lieb und wert ist. Jedes Bild, jede Kameraeinstellung, jeder Dialog ist ein Zitat, und so ist der Film eine Fundgrube für Cineasten, die darin nach Herzenslust herumstöbern können.
Agnes Varda wirft manchmal Filmszenen, Schauspieler und Bonmots allzu übermütig durcheinander, und so sind längst nicht alle Sequenzen des Films gelungen. Die gesamte Nebenhandlung über einige junge Filmemacher, die versuchen, Monsieur Cinémas Erbschaft zu erschleichen, um damit ihren eigenen Film zu finanzieren, hätte die Regisseurin getrost weglassen können. Auch der Auftritt von Hanna Schygulla und Jeanne Moreau, die am Bett von Piccoli nur in den Titeln von Filmen reden, in denen sie mitspielten, ist gründlich mißlungen: Beide wirken wie selbstherrliche Diven, denen kein Kalauer zu blöde ist.
Aber wie alles an diesem Film sind auch diese Szenen schnell vorbei, und als nächstes kann man sich an einem Ausschnitt aus Keatons „The General“ erfreuen oder daran, daß ein an der Wand abgestelltes Fahrrad sofort von einem neorealistischen Fahrraddieb stibitzt wird.
Agnes Varda hatte offensichtlich den Ehrgeiz, soviel Stars wie nur irgend möglich in die Villa und in den Film zu stopfen, und viele Gäste zeigen nur kurz mal ihr Gesicht, ohne daß der Regisseurin groß etwas dazu eingefallen wäre: Catherine Deneuve, Robert de Niro, Jean-Paul Belmondo, Gina Lollobrigida, Alain Delon kann man bewundern, aber mehr auch nicht.
Doch dann gelingen Varda wieder einige wunderschöne Miniaturen. Etwa wenn Gerard Depardieu sich mit Piccoli (der hier den Schauspieler Michel Piccoli spielt) darüber unterhält, auf welche Arten sie beide schon in Filmen umgebracht wurden. Oder wenn Monsieur Cinéma mit einem Zauberstab Sandrine Bonnaire direkt aus ihrer Rolle der Obdachlosen in „Vogelfrei“ in eine Dame im festlichen Abendkleid und dann in Rivettes „Jungfrau von Orléans“ mit Ritterrüstung verwandelt.
Für all jene, die nicht halbwegs firm in Filmgeschichte sind, werden die vielen Injokes, Fußnoten und Querverweise schnell ermüdend werden. Aber für Cineasten ist dies in erster Linie ein großes Ratespiel, bei dem man sich über jede erkannte Filmszene oder Anspielung freut.
Wilfried Hippen
im Atlantis 17.30, 20.30 Uhr, Fr. u. Sa. auch 23 Uhr
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