: „Die meisten Eltern flunkern erst mal“
Jeden Tag verschwinden in Berlin an die 20 Menschen. Aber in der Regel ist dies nur für kurze Dauer. Von den 7.385 Menschen, die 1994 vermißt gemeldet wurden, kamen zwei Drittel nach drei Tagen wieder zurück. Nach zehn Tagen waren es 95 Prozent. „Nur ein bis zwei Prozent“, weiß der Leiter der Vermißtenstelle der Kriminalpolizei, Jürgen Knobel, „sind länger als einen Monat weg“.
Bei Erwachsenen nimmt die Polizei erst dann eine Vermißtenanzeige auf, wenn es Anzeichen dafür gibt, daß die gesuchte Person Selbsttötungsabsichten hatte oder Opfer einer Straftat geworden sein kann. Bei Kindern und Jugendlichen muß dagegen sofort reagiert werden. Von den 1.599 Kindern, die 1994 vermißt gemeldet wurden, waren die meisten zwischen 9 und 13 Jahre alt, die Mehrzahl davon Jungen.
Die meisten hauen aus Abenteuerlust von zu Hause ab oder weil sie sich in ihrer Freiheit beschnitten fühlen und es satt sind, aufzuräumen und den Müll runter zu tragen. Auch der Leistungsdruck in der Schule ist ein häufiger Grund. Seltener, aber häufig genug, kommt es vor, daß Kinder die Flucht ergreifen, weil sie zu Hause mißhandelt werden beziehungsweise ihre Eltern ständig besoffen sind.
Die Wahrheit über die Gründe des Verschwindens der Kinder muß der zuständige Kripobeamte in Erfahrung bringen. „Die meisten Eltern flunkern erst mal ein bißchen, später stellt sich dann doch heraus, daß etwas vorgefallen ist“, schildert Knobel seine Erfahrung. Manche Kinder entwickeln sich nach ihrem ersten längeren Ausflug von zu Hause zu regelrechten Trebegängern. „Wenn sie einmal Fuß in der Straßenkinderszene gefaßt haben, hauen sie immer öfter ab und bleiben immer länger fort.“
Wenn das Kind allerdings das erste Mal über einen längeren Zeitraum vermißt wird und sich kein triftiger Grund dafür finden läßt, „sind gewisse Alarmzeichen gegeben“, so Knobel. Wenn Zeugen das Kind beispielsweise mit einem fremden Mann vom Spielplatz gehen sahen, wird zur großflächigen Fahndung geblasen. Sonst bittet die Kriminalpolizei die Medien in der Regel nur einmal um Veröffentlichung des Suchaufrufs samt Foto des vermißten Kindes.
Drei Fälle von sogenannten langzeitvermißten Kindern bedrücken die Kriminalpolizei zur Zeit besonders:
Der 13jährige Manuel Sch. wird bereits seit dem 24. Juli 1993 vermißt. Der Junge verschwand an einem Nachmittag spurlos, als er sich von seinem Wohnort in Tempelhof ins FEZ in der Wuhlheide aufmachte, um dort Computer zu spielen.
Der 11jährige Samir B. ist seit dem 12. Februar 1994 verschwunden. Das aus Wilmersdorf kommende Kind wollte mit Zustimmung seiner Eltern gegen 22.00 Uhr mit der U-Bahn zu seinem Onkel nach Kreuzberg fahren. Dort kam es aber nicht an. Und nach Till K. wird schon über ein viertel Jahr gefahndet.
Im Gegensatz zu Erwachsenen werden Kinder beim Auffinden von der Polizei solange festgehalten, bis sie ihren Erziehungsberechtigten übergeben worden sind. Im Fahndungscomputer erscheint dann hinter dem Namen der Vermerk: Zur Verwahrungsnahme. Wenn der Verdacht der Mißhandlung besteht, wird das Jugendamt hinzugezogen. plu
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