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Leseland ist abgebrannt

Bibliotheken in Ostberlin boomen und sind zum Teil moderner als ihre Gegenstücke im Westen. Das „Leseland DDR“ ist vom Medium Film verdrängt worden  ■ Von Elke Gundel

„Wir haben jetzt Ausleihzahlen, von denen haben wir in der DDR nicht mal geträumt“, sagt Margrit Sühnhold, Leiterin des Bibliotheksamtes Mitte. In sechs Ostberliner Bezirken wurde 1994 die magische Grenze von einer Million Ausleihen im Jahr überschritten und die Nachfrage hält weiter an. Insgesamt nutzen etwa 20 Prozent der Berliner die öffentlichen Bibliotheken. Doch trotz des Booms ist das „Leseland DDR“ Vergangenheit: Jugendliche ziehen Filme den Büchern vor.

Kurz nach der Wende hätte jedoch niemand auf eine so positive Entwicklung zu hoffen gewagt. Der Run auf den Westen bescherte den öffentlichen Bibliotheken in Ostberlin gähnende Leere, die West-Bibliotheken hatten derweil Mühe, den Ansturm zu bewältigen. „Die Regale der Amerika- Gedenkbibliothek waren leergefegt, die Menschen standen stundenlang Schlange“, erinnert sich Sühnhold – ein Ausdruck des enormen Nachholbedarfs. Denn die Ostberliner Bevölkerung wollte wissen, was ihr 40 Jahre lang vorenthalten wurde. Aber, so die Amtsleiterin, die bunte Aufmachung habe eben wenig zu tun mit den Inhalten. Die Ostberliner seien in dem Maße zu ihren angestammten Bibliotheken im Kiez zurückgekehrt, in dem sie den Westen kennengelernt hätten. Außerdem sei mittlerweile auch das Angebot der Bibliotheken in Ost- und Westberlin vergleichbar. Neben den Erwachsenen stellen Kinder die größte BesucherInnengruppe. Jugendliche flitzen jedoch lieber auf Inline-Skaters über den Breitscheidplatz, als Bücherregale zu durchstöbern.

Ähnlich wie in Mitte ist es auch den Bibliotheken in anderen Ostberliner Bezirken ergangen. Die wegbrechenden BesucherInnenzahlen direkt nach dem Mauerfall sorgten für die notwendige Ruhe, der Senat für das nötige Geld zur Erneuerung des Bestandes. Zum Teil sind die Bibliotheken im Ostteil sogar moderner und verfügen über ein breiteres Angebot an Videos, CDs und Software als ihre Gegenstücke im Westteil der Stadt.

Die größte Nachfrage besteht bei Kinderbüchern, dicht gefolgt von Sach- und Fachbüchern sowie Reiseliteratur. In den ersten Jahren haben die OstberlinerInnen alles verschlungen, was ihnen helfen konnte, sich in der neuen Bundesrepublik zurechtzufinden. Gesetzestexte, Ratgeber für Beruf und Alltag waren dauerausgeliehen. Mittlerweile konzentriert sich das Interesse stärker auf Hilfen zur Fort- und Weiterbildung. Früher konnten die Menschen zum Zeitvertreib lesen, heute müssen sie lesen, um sich weiter zu qualifizieren.

Ganz bewußt wird in Mitte ein bestimmter Bestand an DDR-Literatur und -Musik erhalten. Auf diese Weise wird ein Stück Geschichte dokumentiert. „Es kommen heute Westberliner zu uns, weil sie hier Bücher finden, die es im Westen nicht gibt“, sagt Sühnhold selbstbewußt.

„Gelesen wird immer noch, trotz finanzieller Probleme“, bestätigt auch Ingo Specht von der Käthe-Kollwitz-Buchhandlung in der Dimitroffstraße. „Von Marie Luise Fischer bis Paul Celan wird alles gekauft.“ Allerdings sei die Aufarbeitungszeit der DDR-Geschichte vorbei: „Das kön-

nen die Menschen hier nicht mehr hören.“ Höchstens lachen wollen sie darüber: „,Helden wie wir‘ von Thomas Brussig ist derzeit ein Renner, alte DDR-Größen wie Christa Wolf bleiben dagegen im Regal.“ Vom Sozialhilfeempfänger bis zum Millionär reiche die Kundschaft. Obwohl die Kaufkraft „schwindet wie Sau“, fällt der Umsatz noch nicht, sagt der Buchhändler.

Trotz steigender BesucherInnenzahlen in den Bibliotheken und zufriedenen BuchhändlerInnen könne jedoch keine Rede sein vom „Leseland Ostberlin“, meint Bernd Lindner, Kunst- und Kultursoziologe aus Leipzig. Und setzt noch einen drauf: „Das Leseland DDR gibt es nur noch bei den 35jährigen und älteren Ostdeutschen.“ Diese Altersgruppen stünden heute allerdings vor dem Problem, adäquate Bücher zu finden. Das „Leseland DDR“ sei das Ergebnis einer gesellschaftlichen Situation gewesen, in der kritische Töne in den aktuellen Medien zensiert wurden. „Die Kritiker sind damals in die Kunst ausgewichen.“ Schon seit Mitte der siebziger Jahre jedoch seien die Jugendlichen aus dem Lesen ausgestiegen; Jungen stärker als Mädchen. Zuerst hätten die Lehrlinge und jungen Arbeiter die Romane zugeklappt, dann die Schüler und seit Ende der achtziger Jahre auch die Studenten.

Spätestens seit 1993 unterscheiden sich die Jugendlichen in Ost und West kaum mehr in ihrem Leseverhalten. „Bücher sind Stück für Stück durch Filme verdrängt worden“, hat Lindner herausgefunden. Wer als Kind oder Jugendlicher keinen Zugang zum Lesen gefunden habe, der würde als Erwachsener selten zu Büchern greifen.

Auch boomende Bibliotheken sind für ihn kein Argument: „Das sind doch mittlerweile Multi-Mediatheken, keine Bibliotheken mehr.“ Das anhaltende Bedürfnis nach schriftlichen Informationen habe nichts mit dem „Leseland DDR“ zu tun, in dem sich die Menschen mit Hilfe von Romanen über gesellschaftliche Entwicklungen verständigt hätten. Die steigenden Ausleihzahlen hält Lindner lediglich für einen Ausdruck des attraktiveren Bestandes: „Was gab es denn zu DDR-Zeiten schon an interessanten Büchern in den Bibliotheken?“Foto: Meisterstein

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