■ Schauspiel um Zulassungen zur Wahl in Rußland beendet: Freie Improvisation
Der Sturm über Moskau hat sich gelegt. Die liberaldemokratische Partei „Jabloko“, der die zentrale Wahlkommission die Teilnahme an den Wahlen versagte, erhielt ein höchstrichterliches Plazet. Das Oberste Gericht schickte sie zurück ins Rennen, während es der Wahlkommission einen Rüffel erteilte. Auf den ersten Blick möchte man meinen: Ein Triumph der Gerechtigkeit, Rußlands Rechtsstaat zeigt seine ersten Blüten. Die ganze Affäre hinterläßt dennoch einen faden Beigeschmack. Obwohl sie eins überzeugend demonstrierte: die Wachsamkeit einer politischen Klasse gegenüber schwerwiegenden Angriffen auf die wackeligen Säulen der russischen Demokratie. Doch der Schauplatz heißt Rußland, und was auf der Bühne dargeboten wird, entspricht nicht unbedingt dem Drehbuch. Es hat viel von freier Improvisation.
Es scheint ziemlich unwahrscheinlich, daß der Vorsitzende der Wahlkommission, Nikolai Rjabow, mit seinem Verbot die Wahlen in eine bestimmte Richtung drängen wollte. Er hat sich und seine Kommission nur sehr ernst genommen – zum einen, um sein Profil aufzubessern, zum anderen, um unter Beweis zu stellen, daß der Buchstabe des Gesetzes durchaus etwas zählt. Das hat bei den Betroffenen für einige Irritationen gesorgt. Sie alle wußten um die Kompliziertheit und Widersprüchlichkeit des Wahlgesetzes. Es herrschte daher – wie meist in Rußland – eine stille Übereinkunft darüber, daß ohnehin einige Regelverstöße notwendig seien, um zur Wahl zugelassen zu werden. In solchen Fällen klärt der „persönliche Kontakt“ eventuelle Disharmonien. Entweder hat Rjabow dieses ungeschriebene Gesetz der Interaktion diesmal außer Kraft gesetzt, oder die Akteure der Gegenseite haben ihn einfach nicht für voll genommen. Jeder Bürokrat gerät da in Rage.
Das Gezeter um Einschränkungen demokratischer Rechte schießt weit über das Ziel hinaus. Die chaotische politische Landschaft Rußlands befördert natürlich derartige Spekulationen. Dennoch war die Entscheidung des Gerichts alles andere als demokratisch, nicht einmal verfahrenstechnisch. Das Urteil des Gerichts konnte nicht anders ausfallen, aber es ist in seiner Form ein politisches Urteil: Im Interesse des Fortbestehens der Demokratie wurden demokratische Regulative kurzerhand außer Kraft gesetzt. Mit viel Wohlwollen könnte man es mit dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit umschreiben. Seltsam, selbst das gibt Anlaß zur Hoffnung. Klaus-Helge Donath, Moskau
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