: Wenn Rollstuhlfahrer Bahn fahren
Behindertenfreundliche U- und S-Bahn-Stationen sind Etikettenschwindel. Rollstuhlfahrer können die ausgezeichneten Bahnsteige nicht verlassen oder dort nicht umsteigen. Eine Odysee ■ von Heike Müller
Wollen Sie mal so richtig was erleben? Nicht die Besteigung eines Achttausenders ohne Sauerstoffgerät, sondern etwas wirklich Aufregendes. Dann reisen Sie mit einem Freund oder einer Freundin im Rollstuhl nach Berlin.
Nehmen Sie sich am besten ein Zimmer in Karow. Sie möchten lieber in Kreuzberg, Charlottenburg oder Mitte wohnen? Rollstuhlgerechte Hotels gibt es ab 200 Mark pro Nacht. Also doch die nette Pension in Karow.
Ich habe das Glück, daß meine gehbehinderte Freundin ein Auto hat, und deshalb verläuft der erste Abend planmäßig: Verabredung mit Freunden getroffen, in Mitte guten Parkplatz gefunden, bummeln, essen gehen und zurück zur Pension in Karow. Wir wollen allerdings in den nächsten Tagen mit S- und U-Bahn fahren. Dies wird uns von allen Berlinerinnen und Berlinern geraten, denn das Netz sei gut ausgebaut und eigentlich alles mit öffentlichen Verkehrsmitteln streßfrei zu erreichen, heißt es.
Wir fahren also mit der Bahn – ausgerüstet mit Stadtplan und Übersichtskarte der S- und U- Bahn-Linien. Die BVG hat den Plan ihres Netzes mit „Rolli“-Zeichen ausgestattet. Ein weißer Kreis bedeutet: behindertenfreundlich. Ein blauer Kreis bedeutet: behindertengerecht. Der Unterschied wird allerdings nicht erläutert.
In Karow gibt es kein Rolli-Zeichen. Der nächste Bahnhof Richtung Norden, Buch, hat aber eines. Wir machen ohne Murren mit dem Auto erst einmal den Umweg zu dieser Station. Dort stellt sich heraus, daß der Behindertenparkplatz die größtmögliche Entfernung vom behindertengerechten Aufgang zum Bahnsteig hat, der wiederum aber nicht ausgeschildert ist. Auf dem Weg zum Bahnsteig gibt es tatsächlich keine Hindernisse. Nur der Einstieg in den Waggon ist nicht ungefährlich, kann der Rollstuhl mit seinen kleinen Vorderrädern doch in der Lücke zwischen Zug und Bahnsteig hängenbleiben.
Wir fahren vier Stationen bis zur Bornholmer Straße, denn dort ist ein Übergang zur S-Bahn-Linie 1 – mit Rolli-Zeichen. Nach dem Ausstieg sind wir allerdings entsetzt: Die andere Bahn fährt auf der anderen Seite der Brücke, dazwischen liegen unüberwindliche Treppen. Andere Fahrgäste bieten an, den Rollstuhl zu tragen, doch eine Frau ruft uns zu: „Eine Station weiterfahren!“
Die nächste Station heißt Schönhauser Allee. Nein, sagt der junge Bahnangestellte dort, Sie müssen zurück nach Bornholmer Straße. Es gebe dort tatsächlich einen behindertenfreundlichen Übergang. Wir finden an der Bornholmer Straße einen Teerweg – doch der führt vom Bahnsteig in ... die Wüste. Zurück zum Haus des Zugabfertigers, das vier Stufen hat. Der BVG-Bedienstete gibt Tips: Wir sollen zurück nach Pankow fahren und dort den Zug nach Grünau nehmen. Dieser fährt zwar auch hier durch, aber leider auf einem anderen Bahnsteig. Wir fahren aber bis Plänterwald. Dort können wir den Bahnhof zwar nicht verlassen, aber die andere Bahn fährt am selben Bahnsteig los. So kommen wir endlich zum Bahnhof Zoo.
Insgesamt sind wir ungefähr dreieinhalb Stunden unterwegs. Den Rückweg erledigen wir mit dem Taxi, was 70 Mark kostet. Irgendwann wird jeder Mensch abenteuermüde.
Am nächsten Tag nehmen wir uns zu Beginn gleich mehr Zeit. Wir zählen einfach zur Reisezeit der „Nichtrollis“ eine Stunde hinzu und machen uns auf den Weg. Am Zoo steigen wir in die U-Bahn-Linie 2 zum Nollendorfplatz um. Auch der Bahnhof Zoo hat eine abenteuerliche Komponente, denn wir finden nur einen Fahrstuhl der uns auf den falschen Bahnsteig befördert – nämlich in die falsche Fahrtrichtung. Auch Nachfragen nützt nichts. Es soll einen anderen geben, aber niemand kann sagen, wo der ist.
Am Nollendorfplatz scheitert das Umsteigen ebenfalls an einem fehlenden Übergang. Langsam begreifen wir, was die Rolli-Zeichen auf der BVG-Karte bedeuten: Wir können einen Bahnsteig erreichen oder verlassen, aber nicht unbedingt umsteigen.
Ein Berater und eine nette Beraterin der BVG bemühen sich, eine Verbindung zu finden – erfolglos. Wir nehmen wie schon am Tag zuvor ein Taxi. Es gibt zwar einen rollstuhlgerechten Linienbus nach Kreuzberg, aber der fährt alle drei Stunden, oder alle zweieinhalb?
Noch einen letzten Versuch mit der Bahn leisten wir uns am nächsten Tag: Wir planen eine Bootsfahrt und wählen einen Anlegeplatz in der Nähe des Bahnhofs Friedrichstraße.
Also los: Von Karow nach Buch mit dem Auto. Von dort nach Plänterwald, Übergang Richtung Westkreuz bis Friedrichstraße.
Das Rolli-Zeichen auf der Karte signalisiert uns, daß wir hier auf jeden Fall vom Bahnsteig runterkommen. Doch dann finden wir auf dem Bahnsteig weder Lift noch Rampe, noch Hinweisschilder.
Den Rückweg erledigen wir besser mit dem Taxi
Dann entdecken wir einen Lastenaufzug. Doch auf unser Klingeln passiert nichts. Und es kommt niemand. Den Zugabfertiger können wir ebenfalls nicht erreichen. Er hat seinen Sitz mehrere Meter über dem Bahnsteig und schenkt uns keine Beachtung. Ein uniformierter BVG-Bediensteter, der bereits auf dem Heimweg ist, kümmert sich dann allerdings um uns und spricht mit dem Zugabfertiger. Dieser sichert zu, den Lastenaufzug anzufordern. Nach einer weiteren Viertelstunde kommt der Aufzug dann tatsächlich bei uns an. Wartezeit: insgesamt eine Dreiviertelstunde. Der Lastenaufzugsführer ist völlig genervt von dieser überflüssigen Tätigkeit und erklärt auf unsere Frage, an welcher Ecke des Bahnhofs wir denn nun rauskämen, er wisse von außerhalb des Bahnhofs nichts, bewege sich nur innerhalb.
Aus unserer Bootstour wird aber nichts mehr. Denn inzwischen ist das letzte Boot verliehen. Mit einem Taxi fahren wir zum Treptower Park – 40 Mark. Auch dort ist das letzte Boot weg. Hier wiederum ist der Bahnhof am Park nicht für Rollis begehbar. Nach längerer Telefonsuche können wir uns ein Taxi rufen und für 20 Mark zum Bahnhof Schönefeld (blaues Rollizeichen) fahren. Zurück in Karow, fallen wir völlig fertig ins Bett.
Daß wir doch noch eine Bootsfahrt machen, liegt ganz einfach daran, daß wir uns am letzten Tag nur noch mit dem Auto bewegen. Das Interessanteste am Bootsfahren sind übrigens die Schleusen: Für Schiffe gibt es in Berlin jede Menge Fahrstühle.
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