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■ NormalzeitWende und Würde

Im Gießener Ein-Mann-Verlag „edition psychosozial“ werden neben einer gleichnamigen Zeitschrift gelegentlich auch Bücher veröffentlicht. Unter anderem der „Versuch, mir und anderen die ostdeutsche Moral zu erklären“ von Annette Simon. Die Autorin, Tochter von Christa Wolf, ist praktizierende Psychotherapeutin in Ostberlin, sie arbeitete im Krankenhaus Lichtenberg, Herzberge, wo lange Zeit das MfS seine Leute therapeutisch behandeln ließ: „Diese Patienten litten übrigens fast ausnahmslos an Verfolgungswahn.“ Ein Annette Simon bespitzelnder Kollege in Herzberge führte sinnigerweise den IM-Decknamen „Sigmund Freud“. Im Buch berichtet sie von drei West-Psychologen, „die uns in der Humboldt- Universität, für ein entsprechendes Entgelt natürlich, einen Vortrag halten, wie man sich als Psychologe in freier Praxis niederlassen kann. Sie schildern Details wie die Größe des Praxisschildes oder wie man sich anzuziehen hätte, wenn man von der Bank einen Kredit haben möchte. Für die Dame: Einfaches, aber gut gearbeitetes dunkles Kostüm. Mehrmals gehen Lachwellen durch den Saal. Sie verstehen nicht, worüber wir lachen. Mit einer mir unverständlichen Selbstverständlichkeit zelebrieren sie vor uns die Mechanismen ihres Systems, ohne zu beachten, daß dies für uns wie eine Karikatur des Kapitalismus aus dem Staatsbürgerkunde-Unterricht erscheinen muß. Und ohne zu beachten, wie sie alle Anwesenden mit einer unglaublichen Ignoranz entwerten.“

Noch einen Zacken härter ist eine Abwicklungsgeschichte aus dem staatlichen Rundfunk: „In einem Raum stand ein Telefon auf einem Tisch. Die in einer Schlange vor dem Raum stehenden Mitarbeiter hatten einzeln in den Raum zu treten und wurden über dieses Telefon mit der „Zentrale“ in einem der Alt-Bundesländer verbunden. Nach der Nennung ihres Namens konnten sie über das Telefon die Entscheidung über Entlassung oder Neueinstellung, die Entscheidung über ihre weitere berufliche Existenz erfahren. Danach hatten sie wieder an der Schlange ihrer wartenden Kollegen vorbeizugehen und dann die Freiheit, sich ihre Gefühle anmerken zu lassen oder nicht.“

„Wieder dieses Fehlen von Würde und Anstand, wie es schon mein Kollege Paul Franke als ein hervorstechendes Merkmal des deutschen Vereinigungsprozesses bezeichnet hatte“, merkt Annette Simon dazu an.

Bei ihren Patienten fiel ihr auf, „daß sich im letzten halben Jahr die Rezidive, die Wiedererkrankungen gehäuft haben. (...) Fast alle sind jetzt arbeitslos oder vom Verlust ihres Arbeitsplatzes unmittelbar bedroht. Für sowieso meist schon sozial isolierte Menschen ist dies auch eine bedrohliche Beschneidung ihrer wichtigen sozialen Kontakte.“

In einem Gespräch mit zwei Mitarbeiterinnen des „Ost-West- europäischen Frauen-Netzwerkes“ (OWEN) erfuhr ich neulich, was das für praktische Auswirkungen haben kann: Die OWEN- Frauen hatten Zeitungsannoncen aufgegeben, mit denen sie für einen Umschulungskurs in „Projektmanagement und Unternehmensgründung“ arbeitslose Akademikerinnen über 45 suchten. Es meldete sich keine: „Weil die Betroffenen schon längst ihre Zeitungs-Abonnements abbestellt hatten“. Als diese Anzeige noch einmal, als redaktioneller Beitrag diesmal, in den kostenlosen Bezirks-Wochenzeitungen erschien, „hielten die meisten das zunächst für einen Scherz bzw. für einen journalistischen Fake: Sie konnten sich nicht vorstellen, daß da tatsächlich Frauen über 45 gesucht wurden.“ Helmut Höge

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