■ Hörsturz: Kinder im Krieg
„(Belo-)Russische Anthologie“, So., 0.05 Uhr, Deutschlandradio Berlin.
Wir alle kennen die Krux mit den Gedenktagen um Kriegsanfänge oder -enden: Erinnerung, die Warnung sein könnte, erstarrt oft im Feierritual. Dann wird das Entsetzliche abstrakt und läßt sich praktisch im Gewissens-Archiv verstauen. So zuletzt im Mai 1995. Damals sollte auch Lothar Trolles „(Belo-)Russische Anthologie“ gesendet werden. Ein technisches Problem ersparte dem Hörspiel seine Ursendung im allgemeinen Betroffenheitsrummel. Was für ein Glücksfall! Denn jetzt traf dieser Erinnerungschor russischer Überlebender einen ungeschützten Nerv. Trolles Hörstück basiert auf Interviews, die Swetlana Alexijewitsch mit Menschen führte, die die Greuel des Zweiten Weltkriegs als Kinder erlebten. Zwar ist inzwischen bekannt, wie Hitlers Schlächter wüteten. Doch indem Trolle den Blick auf die kleinen Opfer lenkt, die vom allgemeinen Chaos nichts verstehen, entreißt er uns den Schutzschild der „Historie“. In einfachen Worten werden Bildfetzen entworfen, die bekannte Situationen durch ihre kindliche Wahrnehmung wieder „frisch“ und abschreckend machen.
Der Abschied eines Kindes vom Vater etwa steht für viele Abschiede: Nachts sieht der Kleine, wie der Papa die Hände der Mama heftig küßt. Dann verläßt er das Haus, blickt zurück und schlägt die Hände vors Gesicht. Der Junge am Fenster sagt sich: „Den siehst du nie wieder.“ Ähnliche Erinnerungen beschreiben Flucht und Bombardierung, die Erschießung einer Mutter, den Hunger. Ulrich Gerhardts Regie hat den Stimmen von Caroline Eichhorn, Johanna Schall und Daniel Morgenroth eine beunruhigende Mischung aus kindlichem Fatalismus und frühreifer Reflexion gegeben. Gaby Hartel
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