: Der dreifache Willy
Willy Brandt wird Opernheld. In Potsdam bastelt Komponist Gerhard Rosenfeld, in Dortmund wartet bereits Intendant John Dew. Im Februar 97 ist Abgabetermin für das Werk, das allen Willy-Fans „eine neue Dimension erschließen“ soll ■ Von Margot Weber
Die Oper ist ein „unmögliches Kunstwerk“, das wußte schon der Musikschriftsteller Oscar Bie. Und fast immer hat sie ziemlich wenig mit der Wirklichkeit gemein: Wo, außer auf der Opernbühne, gibt es noch bunte Vogelmenschen, Zauberflöten und kesse Kammerzofen?
Doch seit einigen Jahren nimmt sich die Oper verstärkt die Wirklichkeit vor. Mit „Nixon in China“, vor acht Jahren im texanischen Houston uraufgeführt, etablierte sich im Musiktheater ein neues Genre: die Politoper. Und John Dew, Dortmunds neuer Generalintendant, schwimmt engagiert mit auf dieser Welle des Zeitgeistes: „Kniefall in Warschau“ heißt das Werk über Willy Brandt, dessen Libretto er bei seinem Assistenten Philipp Kochheim in Auftrag gegeben hat. Als Komponist verpflichtete er den bei Potsdam lebenden Gerhard Rosenfeld. Abgabe der Partitur ist am 1. Februar 1997, die Uraufführung ist für die Spielzeit 1997/98 geplant.
„Ganz großartig“ findet Rosenfeld die Idee einer Brandt-Oper: „Brandt war – neben Adenauer – der bedeutendste Politiker in Deutschland nach dem Krieg.“ Warum also keine Oper aus diesem Leben machen? Neun Szenen wird das Opus haben, der Bogen spannt sich von Brandts Exil in Norwegen bis hin zum Fall Guillaume. Der „Mensch“ Willy Brandt hat den 64jährigen Komponisten schon lange fasziniert: „Brandt weist Wesenszüge auf, die bei Politikern ganz selten sind. Brandt hatte die Fähigkeit, Visionen zu entwickeln und dann auch durchzusetzen.“
Ein sehr verletzlicher Politiker sei er gewesen, sehr dünnhäutig. Ein biographisches Portrait des Exbundeskanzlers als Gegenstand der Oper? „Nein“, sagt der Komponist, wir wollen ihn nicht als historische Persönlichkeit erfassen, sondern Szenen seines Lebens in stilisierter Form zeigen. „Deswegen wäre es mir sowieso lieber, das Werk bekäme den Untertitel ,theatralische Vision‘.“
Und da eine Vision getrost die Realität ignorieren darf, gibt es die Hauptfigur auch gleich dreifach: Als Willy Brandt, als den jungen Brandt, im Libretto „J.B.“ genannt, und als „W.B.“, einen Charakter, der über den Dingen schwebt und von dort aus reflektiert. Drei Brandts – angesiedelt irgendwo zwischen Trio infernale und der Heiligen Dreifaltigkeit.
Doch die Hauptfigur zu splitten, das ist nicht neu, erinnert schwer an die Hamlets I bis III in Wolfgang Rihms „Hamletmaschine“, an die vier Gretchen bei Christoph Marthaler, auch an den doppelten Gründgens bei Johann Kresnik. Dieser Kunstgriff soll, bedeuten Theatermacher gern, dem Werk eine „neue Dimension erschließen“, mitunter auch, wie bei Kresniks „Gründgens“, die Demontage eines Mythos erleichtern. Nicht so bei Rosenfeld: „An Brandt wird nichts demontiert.“ Die Auffächerung soll vielmehr zeigen, daß der Kniefall eine „Vision von heute“ ist. „So machen wir die Ambivalenz eines Menschen theatralisch sichtbar.“
Im übrigen sei das ganze Werk keine Oper im Sinne des 19. Jahrhunderts, mit Ouvertüre, Arien und Ensemblefinale. All das werde es nicht geben, sagt Rosenfeld. Keine großen Solopartien, sondern – und darin den Debatten in der Politik nicht unähnlich – „ein Wechselspiel von Stimmen, ein eher dialogisierendes oder gleichzeitig vorangehendes Reden“. Wenn die Gattung Oper weiterleben solle, müsse sie sich wandeln, müsse sie dem heutigen Lebensgefühl entsprechen. Schließlich sagt er noch, und es klingt wie die endgültige Grabrede auf Monteverdi und Mozart, Gluck und Gounod: „Irgendwann werden die Menschen es wahrscheinlich satt haben, ein Gegenwartsproblem an einem musealen Werk gezeigt zu bekommen.“
Rosenfeld selbst gilt branchenintern als bedeutender zeitgenössischer Komponist – wenngleich ihn im Westen kaum jemand kennt – und hat bei der Stoffwahl seiner bisherigen fünf Opern stets tief in die literarische Kiste gegriffen: „Die Verweigerung“ zum Beispiel geht auf Gogols „Tagebuch eines Wahnsinnigen“ zurück, „Das Spiel von Liebe und Zufall“ auf Marivaux. An einen Gegenwartsstoff hat er sich noch nie herangewagt, und mit seiner letzten Oper, „Friedrich und Montezuma“, ziemliches Pech gehabt: Das Werk war eine Auftragskomposition der Berliner Staatsoper Unter den Linden und sollte dort am 25. Februar 1990 uraufgeführt werden. Doch als im November 1989 die Mauer fiel, kippte die Intendanz nur Tage später das ehrgeizige Projekt. Begründung: DDR-Werke seien ab sofort unverkäuflich, man müsse nun Kassenschlager für die Westberliner bieten.
Wirklich verkraftet hat Rosenfeld das nie. „,Friedrich und Montezuma‘ ist mein Hauptwerk“, sinniert er. „Und als das abgesetzt wurde, hat es lange gedauert, bis ich wieder den Mut hatte, etwas Neues zu machen.“ Der gebürtige Königsberger ist ein nachdenklicher, grüblerischer Mensch, der es nicht leicht hatte in der DDR – und der es sich ganz gewiß nicht leicht gemacht hat. Seine Musik galt dem Komponistenverband als „nicht optimistisch genug“, sie strahle „das Lebensgefühl der DDR nicht aus“, notierten die SED-Kulturbeauftragten dienstbeflissen. Und anders als den Kollegen Siegfried Matthus oder Udo Zimmermann verwehrte ihm sein Staat manches Mal die Möglichkeit, zu Aufführungen seiner Werke in den Westen zu reisen.
Hätte er reisen können, hätte er die Geburtsstunde der Politoper ja vielleicht miterleben können: Im Jahr 1987 hob Regie-Wunderknabe Peter Sellars in Houston „Nixon in China“ von Alice Goodman (Text) und John Adams (Musik) aus der Taufe. Als leicht verdauliche Mischung zwischen veritabler Dokumentation und revuehaft aufgemotztem Musical war der Chinabesuch des amerikanischen Präsidenten 1972 mehr als ein Jahrzehnt später zu einem Thema für die Opernbühne geworden. „Nixon in China“, das war komische Oper und politische Satire zugleich.
Nur zwei Jahre danach – Motto: Never change a winning team – schickten Goodman/Adams/Sellars 1989 „The Death of Klinghoffer“ hinterher, eine Oper über die Entführung des Kreuzfahrtschiffs „Achille Lauro“. Doch hier machten die drei einen großen Fehler: „The Death of Klinghoffer“ sollte in Musik wie Inszenierung eine musikalische Tragödie sein, war mit tiefem Ernst – Kritiker meinten: „mit sakralem Kitsch“ – auf die Bühne gewuchtet. Und siehe da: Das langweilte das Publikum, der Erfolg blieb aus.
Der Deutsche Franz Hummel wollte da nicht zurückstehen, komponierte die Kammeroper „Gorbatschow“, die vor gut einem Jahr an der Oper Bonn in die Welt entlassen, aber von selbiger schnell wieder vergessen wurde. Und ein neues Kapitel in der Geschichte der Politoper ist auch schon geschrieben: ein Werk über Harvey Milk, den 1987 ermordeten schwulen Bezirksbügermeister von San Francisco. Die amerikanische Uraufführung hat die Oper bereits hinter sich, die deutsche Erstaufführung hat sich, wer sonst, John Dew für Dortmund gesichert.
Politische Stoffe funktionieren in der Oper wohl nur, wenn sie unterhaltsam dargeboten werden, komisch sind – das steht wahrscheinlich hinter dem Fehlschlag Hummels und dem Erfolg, den John Dew, wer sonst, 1989 mit der deutschen Erstaufführung der „Nixon in China“-Oper in Bielefeld hatte.
Je musicalnäher die Politoper, desto erfolgreicher wird sie sein. Andrew Lloyd Webbers Straßenfeger „Evita“ ist dafür das beste Beispiel, aber auch die 1993 in Münster uraufgeführte Rockoper „JFK“ der Briten Tim Hawkins und John Kelham. Im Zeitalter der Realsatire ist ja jedes Auftreten eines Politikers schon irgendwie Karikatur, da ist die Musicalbühne dem Ganzen wohl am ehesten kongenial.
Sich vielleicht im falschen Genre zu tummeln, diese Gefahr sehen die Macher offenbar nicht. Gerhard Rosenfeld will auf keinen Fall einen revueartigen Bilderbogen über 40 Jahre BRD komponieren. Und das hat man in Dortmund zur Kenntnis genommen: „Dew weiß, was für eine Musik er von mir bekommt: keine Popmusik, keine Musicalmusik.“ Musik zwar, die manchmal ins Groteske gehe, aber ansonsten mit wirklichen Emotionen behaftet sei.
„Wahrhaftigkeit“, sagt er immer wieder, „Wahrhaftigkeit“ sei ihm das Wichtigste. „Ich nehme die Dinge einfach nicht so leicht.“ Doch für das Leichte in den Dingen gibt es ja dann John Dew. Der wird die eine oder andere Einlage schon finden, in der Egon Bahr über die Bühne hüpfen und Herbert Wehner mit Willy Brandt Rumba tanzen kann.
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