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Kindheit unterm „Anneliesenblick“

Makabre Steigerung von DDR-Typischem: In „Dezemberfahrt“ schildert der körperbehinderte Matthias Vernaldi sein Leben in einem staatlichen Kinderheim – als einer von siebzig rollernden und humpelnden Insassen  ■ Von Freya Klier

Dezember 1989, ein Dorf im Süden der DDR. Längst hat die Wende auch jene Wohngemeinschaft erreicht, die nicht nur als erste Behinderten-WG in die DDR- Geschichte eingeht, sondern auch als Hort anarchisch-chaotischer Opposition. Friedensgebete, Montagsdemos, Besetzung der Erfurter Stasi-Zentrale ... Theo Siebenstück, der Ich-Erzähler und geistige Kopf der WG, ist stets mit von der Partie – nur, daß der Montagsdemonstrant nicht läuft, sondern rollt. Und daß seine Angst erdrückend ist: Wenn die Bullen losknüppeln, ist er der einzige, der nicht weglaufen kann ... er sitzt bewegungslos im Rollstuhl, hat Muskelschwund schon seit Jahren im finalen Stadium und könnte – wenn es hart auf hart kommt – nicht einmal die Hand zum Schutz des Gesichtes heben.

„Dezemberfahrt“ – ein Wenderoman? Wohl eher die dramaturgische Klammer für eine Fahrt in die Vergangenheit. Mit seinem Freund Kulle kehrt Theo in jene Horrorwelt zurück, in die er als Kind sechs Jahre lang eingekastelt war: ein Heim am Rande der thüringischen Stadt Gotha. Eine Art „Behinderte Kinder“-Kollektiv, in dem er zusammen mit siebzig kleinen humpelnden und rollernden DDR-Bürgern verwahrt, hospitalisiert und politisch auf Linie gebracht wurde.

Das DDR-Motto „Sie werden plaziert!“ hält für sie eine besonders perfide Variante bereit: Angeschnallt werden sie ins Abseits geschoben; jene Unglücklichen, die am Wochenende keinen Besuch erhalten, haben von Samstag mittag bis Montag früh „abzuliegen“. Einmal pro Woche ist Safttag (der kleine Krüppel Theo soll den Schwestern schließlich nicht zu schwer werden) – die restlichen Tage dagegen muß alles aufgegessen werden, und sei es die eigene Kotze ...

Nicht Sadismus ist hier am Werk, sondern genervte Interesselosigkeit. Disziplin und Unterordnung beherrschen den Tag, die straffen Eß-, Wasch- und Pinkelzeiten gelten für dieses wie für jedes andere staatliche Heim. Wer nicht spurt, kommt in die „Mäusekiste“, bis er wieder funktionstüchtig ist.

Einzig der Kindertag dient zum Aufatmen: Die Patenbrigade von der Post baut dann jeweils Stände auf, an denen mit der Armbrust Wildschwein und Hirsch aus Pappe geschossen werden darf ... und für jedes behinderte Kind gibt es drei Runden Pioniereisenbahn.

Eine liebesleere Protzvilla, in der die Insassen seelisch austrocknen. Das Heim erlebt nicht die erste Diktatur. In der vorherigen diente es als Erholungsheim für Görings Offiziere – eine Bestimmung, von der noch die schwarze Holztäfelung kündet und jener monumentale Alptraum, der im Schlafsaal vis-à-vis den Kinderbetten hängt: ein wandgroßes Schlachtengemälde mit Blut und Boden, Schlachtroß, Held und zerstückeltem Feind. Gute Nacht, liebe Kinder!

Die Sehnsucht nach Wochenende und Schulferien ist unermeßlich, und nicht alle haben Eltern wie Theo, die ihr Kind bedingungslos lieben und kein Wochenende auslassen, um es von der Heimhölle wegzuschieben, zum Beispiel ins Paradies hinüber – einen Park mit Minizoo ... Was sollen sie tun? Eine „normale“ Schule nimmt den schwerbehinderten Jungen nicht auf, als Alternative bliebe der Daueraufenthalt im Krankenhaus. Hilflos müssen sie hinnehmen, daß der Junge dem Heimarzt als Versuchskaninchen dient: Mehrmals und zu reinen Forschungszwecken werden ihm Muskelstücke herausgeschnitten; der Protest des Vaters wird mit der Bemerkung erstickt, er „wolle wohl nicht, daß sein Kind wieder laufen kann?“

Laufen wird Theo nie mehr, sein Bewegungsspielraum von Jahr zu Jahr geringer. Er hat Babyfüße, leidet unter Muskelschwund – und liegt damit gar zu weit neben der Norm. Unter rasenden Schmerzen, jedoch vergeblich, werden seine Glieder zurechtgebogen, wird das sperrige Kinderfleisch Nacht für Nacht in eine Gipsschale gepreßt.

Die Horrorwelt, in die der Autor Vernaldi den Leser im Dezember 89 rollen läßt, heißt Kindheit. Und jeder DDR-Bürger, der einst Insasse eines staatlichen Kinderheims war, findet sich wieder in dieser Welt des preußischen Drills, des schrillen Erzieherinnentons ... des bösen „Anneliesenblicks“, der einen traf, wenn man mit sich am verbotenen Körperteil spielte. Das Heimdasein behinderter Kinder ist die makabre Steigerung von DDR- Typischem, denn es traf Kinder, die dem Erziehungsdruck doppelt ausgeliefert waren. Mit sprachlicher Genauigkeit und einem ausgeprägten Gespür für Details legt Vernaldi die Schichten brutaler Achtlosigkeit frei. Die erbaulicheren Kindheitsmomente sind von trockenem Witz: So etwa der sonntägliche Gottesdienst daheim, mit den bekannten Schnellbetern, den stillen beziehungsweise Langbetern – und all den Nuancen zwischen Losprusten und verstörtem Kinnwackeln, welches die Gemeinde heimsucht, als der Furz eines Eingeschlafenen durchs Vaterunser dröhnt.

Mitunter schleicht sich Kitsch in die Sprache – etwa, wenn das kindliche „Weineherz zerfließt“ oder allzu oft „gehippelt“ wird ... Dann fällt die Wirkung geringer aus als beispielsweise in jener eindrucksvollen Episode, die ohne jede Larmoyanz auskommt und wohl deshalb ein Klima schneidender Kälte schafft: Die Weigerung einiger Jungpioniere, nun auch Thälmann-Pionier zu werden. Theo, aus christlichem Elternhaus und eine Art missionierender Rädelsführer, hat das Alte Testament an die Stelle von Ernst Thälmann gerückt, und plötzlich will die halbe Klasse sich nicht mehr vom blauen Halstuch würgen lassen.

Ein Versuch kindlichen Aufbegehrens, der auch bei humpelnden und rollernden Jungpionieren zum Scheitern verurteilt ist: Erst folgt eine tragikomische Klopperei mit Blockflöte und Armstumpf, Beinprothese und Sicherheitsgurt. Dann der DDR-typische Rückgratbruch: In demagogischer Schärfe nimmt der Pionierleiter jeden Renegaten einzeln vor, läßt ihn Rede und Antwort stehen, ob er auf der Seite von Frieden und Fortschritt stehen oder ein Feind des Sozialismus sein will und damit „rücksichtslos bekämpft“ werden muß.

In minutiöser Erbarmungslosigkeit seziert der Ich-Erzähler die Phasen der Selbstaufgabe – bis hin zum Fahnenappell, bei dem der „Rädelsführer“ schließlich selbst den Thälmann-Spruch verliest ...

„Dezemberfahrt“ ist der stark autobiographisch gefärbte Roman des körperbehinderten Theologen Matthias Vernaldi. Er erzählt, wie ist es, im DDR-Zug im eiskalten Packwagen zu reisen ... in kein Lokal, keinen Dorfkonsum rollen zu können, weil Schrägen so wenig zum sozialistischen Alltag gehören wie Behinderte.

Und dann die lieben Mitmenschen: Wenn sie mit Theo sprechen, schauen sie von oben auf ihn herab oder gehen in die Hocke wie bei einem Kleinkind ...

Vernaldi ist ein Quertreiber. Selbstbewußt und facettenreich schildert er genau das, was Nicht- behinderte gern zum verschämten Wegschauen veranlaßt – den Körper eines Menschen, der nicht dem des Heldentypus auf dem teutonischen Schlachtengemälde entspricht: Babyfüße, O-Beine, dazu eine Hühnerbrust, an deren Seite die Arme wie Würste baumeln ...

Und als wäre ein Tabubruch nicht genug, geht der Autor den nächsten an: Das Sexualleben eines Mannes, der als Kind wenigstens noch die Arme bewegen – also selbst Hand anlegen konnte an seinen „Gickelhahn“. Und der allmählich kein Glied mehr rühren kann – bis auf das eine, das ihm der Herrgott funktionstüchtig erhält im schlaffen Fleisch.

Durchaus einfallsreich gestaltet sich Theos Sexleben – seine Liebste, die Trinkerwitwe Manuela, macht sich mit Ganzkörpereinsatz über seine Lippen her; der Nachteil eines Mannes, bewegungsunfähig zu sein, münzt sich für manche Frau zum Vorteil um ... Und wenn Vernaldi die schmerzlichen Intervalle einer Ejaculatio interruptus schildert, die Theo heimsucht, als die Nachbarin hereinstürmt, um zu melden, daß es im Konsum Bananen gibt, dann befällt uns Ex-Zonis ein schief-nostalgisches Lächeln ...

Matthias Vernaldi: „Dezemberfahrt“. Palette Verlag, Bamberg, 219 Seiten, 28 DM

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