: So ist das mit der Wahrheit, amen!
Nicht der schon vorzeitig als Schmeling-Nachfolger gefeierte Axel Schulz, sondern der Südafrikaner Botha wurde nach wundersamer Punktrichterbeurteilung neuer IBF-Schwergewichtsweltmeister ■ Aus Stuttgart Peter Unfried
Was ist schon Wahrheit? Die eine, die große, die ganze Wahrheit? Nicht nur die von heute, sondern auch noch von morgen. Die Wahrheit, das hatte ein Bombombombastsänger, der Vegetarier Meatloaf nämlich, in den Minuten vor dem Kampf playbackend immer wieder erklärt, sei ein so hehres Gut, daß er dafür sogar lügen würde. So ist das mit der Wahrheit.
Es geschah in der „Stunde der Wahrheit“ (RTL-Themenabendmotto) zunächst einmal, daß die Punktrichter Harry Davis (116:112), Al de Vito (118:111) und Eugene Grant (113:115) den Boxer François Botha vorne gesehen hatten, keiner dessen Gegner Axel Schulz. Wahr ist, daß alle drei aus Nordamerika kommen und ausgerechnet Mr. de Vito kurzfristig engagiert worden war für einen krankgewordenen Kollegen aus Puerto Rico.
„Wenn einer sieben Punkte gegen Schulz wertet, kann er entweder nicht punkten, oder er will nicht, daß Schulz gewinnt“, sprach mißmutig Cedric Kushner, Promoter Wilfried Sauerlands amerikanischer Geschäftspartner. Es gelten, wie Herr Udo Jürgen Bockelmann in der Stuttgarter Nacht knallhart analysierte, „seltsame amerikanische Businessregeln“. In Wahrheit heißt dieser Mann natürlich Udo Jürgens, und der mußte zwar Schampus trinken, aber „kein Boxexperte sein, um zu sehen, daß ein paar Idioten aus Amerika Millionen an der Nase herumgeführt haben“. Da mag der Barde nun etwas unamerikanisch klingen, doch deckte sich sein Unmut mit jenem der 12.700 in der Halle. „12.700 can't be wrong“, jaulte Promoter Wilfried Sauerland. In diesem Fall wäre die Wahrheit also eine Frage der Mehrheit. Deren Motto war allerdings immer gewesen, daß der bessere Deutsche gewinnen möge.
Diese schöne, doch nicht einfache Rolle war im letzten dreiviertel Jahr mit Axel Schulz (27) neu besetzt worden. Diesem netten, jungen Mann hat man mächtig zugesetzt. Schulz sollte geben: den besseren Henry Maske, den netteren Ostler, den aktuelleren Schmeling, den deutscheren Deutschen et cetera. Etwas in den Hintergrund wurde daher gedrängt, was sein Problem im Vergleich mit dem Halbschwergewichtsweltmeister ist: Er kann schlicht nicht so boxen wie der.
Der Kampf in Kurzform mit Deutungsversuch: Erst schlug Schulz nicht, später, als er schlug, traf er, doch nicht, wie es offenbar für einen Sieg nötig gewesen wäre, final. Die RTL-Punkter sahen Bothas Treffervorsprung nach 10 Runden aufgeholt, Schulz' erstmalige Führung (119:117), als ihm am Ende die Luft ausging, aber noch in ein 136:145 verwandelt. Dieter Spöri, der boxende Wirtschaftsminister sah Botha „am Rande des K.o.“, sieht sich selbst allerdings in Vorbereitung des Landtagswahlkampfes. Colonel Bob Sheridan wiederum sah „unglaublich viele Aufwärtshaken-Treffer Bothas in den ersten Runden aus der Kurzdistanz“. Die Wahrheit des Kommentators vom Pay-TV-Sender „Showtime“ steht allerdings auf seinem Visitenkärtchen und besteht aus drei Worten: „Don King Productions.“
„Wer gab denn sechs Runden weg, ohne einen Schlag zu tun“, schrie der oberste Herrscher der Boxwelt selber, „ich nicht!“ Mehr noch sprach der Promoter Don King. So viel, daß die riesige Krawatte mit dem Star-Spangled-Banner mächtig zwischen den Oberschenkeln baumeln mußte. Während Schulz einen Punkt in der Ferne suchte, gratulierte sein Trainer Manfred Wolke mit bitterem Lachen dem neben ihm sitzenden King. Der ehrliche Wolke wollte sarkastisch sein, doch es gelang ihm nicht so recht. „Die ersten sechs Runden waren offen, aber nicht verloren“, sagte er. Deutlicheres nicht. Verloren war nur bereits der Kampf, da sich rumgesprochen hatte, daß sie angeblich sämtlich für Botha gewertet worden waren. Vielleicht war Wolke auch so stille, weil er längst grübelte, während der ihm uneingeschränkt vertrauende Schulz noch davon redete, die Taktik sei „eigentlich aufgegangen“.
Vielleicht ist die Wahrheit auch, daß Wolke Botha überschätzt hat, diesen tapsig, schwerfällig und kurzatmig durch den Ring schleichenden Brocken, der es nicht einmal für nötig hielt, die Fäuste hoch zu nehmen. Vielleicht ist die Wahrheit, daß es ein höchstens durchschnittlicher Kampf eines allenfalls gutbegabten mit einem allenfalls nicht gutbegabten Boxer war. Vielleicht kann man mit der ostdeutsche Fechtschule auf dem Weltmarkt, der ein US-amerikanischer ist, im Halbschwergewicht reüssieren, nicht aber in der Haudraufundschluß-Klasse. Vielleicht ist Axel Schulz trotz seiner 101 Kilo eben gar kein Schwergewichtler. Vielleicht hatten die Deutschen, trotz des Co-Veranstalters Kushner schlicht nicht genug Ahnung, auf was sie sich da mit ihrem 50-Prozent-Partner eingelassen hatten.
Während sie in der Halle den Aufstand mit Champagnerflaschen probten, hatten in den Katakomben alle feuchte, der Kämpfer Schulz feuchte und blaue Augen. Und sein Ministerpräsident sprach das Wort zum Sonntag. „Ich hätte nicht gedacht“, sagte Manfred Stolpe, „daß in Deutschland solche Urteile gefällt werden.“ Er hätte es besser wissen können.
Wahr ist, daß Meatloaf sang, er würde über das Wasser gehen wie der Nazarener. Wahr ist, daß der Boxer Axel Schulz von seinen vier richtigen Kämpfen keinen gewonnen hat. Wahr ist, daß der Boxer François Botha gesagt hat, daß er diese Weltmeisterschaft Don King verdanke, und Sauerland bitter gelacht hat. Wahr ist, daß aus dem Show-Feuer in der Schleyerhalle plötzlich eine Fratze geschaffen ward, die dem herkömmlichen Imago des Teufels entsprach.
Aber die Zeit heilt ja Wunden. „Nie kann man nicht sagen“, sprach also Jean-Marcel Nartz, der Sauerland-Macher, schüttelte King die Hand und stob mächtig wütend von dannen. Und „wenn die Zeit kommt, sich hinzusetzen und etwas Konstruktives zu tun, werden wir das machen.“ Dies sagte mit seiner leisen Stimme, aber ganzer Autoritätsbreite der ernste Cedric Kushner. Es ist, man ahnt es, die reine, die ganze, die einzige Wahrheit.
(Siehe auch Kommentar Seite 10)
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