■ Kolumne:
Darwins Backenhörnchen Von Detlef Diederichsen
Vor meinem Fenster jagen sich zwei fette, alte Eichhörnchen eine riesige Rotbuche rauf und runter, und ich muß an Darwin denken. Und an Rock&Roll. Und wenn ich mein Bewußtsein an die Zügel nehme und mit leerem Blick aus dem Fenster glotze, greifen diese Dinge sinnvoll ineinander. Das klingt dann so:
„Zu Recht wird das Wort Gattung auf Musik angewandt. Man könnte auch von Familien reden. Wie in der Biologie stirbt gelegentlich nicht nur eine Art, sondern eine ganze Gattung von Musik aus. Denn nicht alle sind gleichermaßen überlebens- bzw. anpassungsfähig. Ich frage mich z. B., ob Rock&Roll noch lange leben wird und denke: Nein. Eigentlich ist er ja schon tot. Die Sex Pistols haben das damals erledigt. Rock '95 ist ungefähr so durchritualisiert, so „echt“ wie Demokratie '95, kann entsprechend von einem Erwachsenen nur unter größten Anstrengungen ernst genommen werden, und ein lustiges Partyspiel ist es, jedem Bundespolitiker einen ihm entsprechenden Rockmusiker zuzuordnen.
Wird man in 30 Jahren Pearl Jam so lieben, wie man heute die Beatles und Jimi Hendrix liebt? Nein, aber ja. Ja, denn wahrscheinlich wird alles zu jedem Zeitpunkt irgendwo auf der Welt von irgend jemand geliebt. Jazz hielt man ja auch schon mal für tot. Was ein Irrtum war, wie man heute weiß. Ich tippe mal, daß die Vitalität von Jazz, die Widerstandsfähigkeit größer ist als die von Rock&Roll. Der sich dafür besser anpassen kann, aber, liebe Kinder, ich sage, er hat sich jetzt in eine Sackgasse hinein angepaßt. Und deswegen: Tschüß! Der Nährwert von Charlie Parker und Thelonious Monk ist dann doch höher als der von Lennon/McCartney und Hendrix. Weswegen die Gesamtlebensdauer von Jazz höher sein wird als die von Rock&Roll.
Fehlt noch ein Wort zu jener Gattung, der übrigens interessanterweise immer noch ein Name fehlt. Ich meine die, zu der all diese elektronisch erzeugte Musik von heute gehört, also Techno und House und Ambient und Jungle und wie sie alle heißen – einen das alles unter sich versammelnden Oberbegriff hat sich ja leider noch keiner ausgedacht. Ja, die wird lange leben. Die wird sich hundertmillionenfach aufsplittern, aber ich denke, man kann ihren jetzigen Entwicklungsstand mit dem der auf Instrumenten erzeugten Musik ungefähr zum Zeitpunkt der Erfindung der Leier vergleichen. Sie hat quasi noch ein Fell und lebt auf den Bäumen.
Eichhörnchen sind im Prinzip in Ordnung. Aber sie sollten nicht immer auf mein Balkongeländer kacken. Lebte ich in Amerika, hätte ich sie längst erschossen. Nur, daß es in Amerika keine Eichhörnchen gibt, sondern Backenhörnchen. Darwin sagte ...“
Anmerkung: Dieser Text gehört zur Gattung „Meditation“.
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