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■ Vier Jahre nach Auflösung der Sowjetunion haben die Kommunisten in Rußland wieder die Nase vorn. Veränderungen jedoch stehen nicht ins Haus, läutet doch die Parlamentswahl das Rennen um die Präsidentschaft erst einDie Älteren hatten das

Vier Jahre nach Auflösung der Sowjetunion haben

die Kommunisten in Rußland wieder die Nase vorn. Veränderungen jedoch stehen nicht ins Haus, läutet doch die Parlamentswahl das Rennen um die Präsidentschaft erst ein

Die Älteren hatten das letzte Wort

„Es ist nicht zu fassen, daß die Leute so schnell vergessen“, kommentierte die 30jährige Ludmilla den Durchmarsch der Kommunisten. Die Enttäuschung steht ihr im Gesicht. Vor zwei Jahren hat sich die ehemalige Ingenieurin mit zwei Kompagnons selbständig gemacht. „Soll das alles wieder den Bauch runtergehen?“ fragt sie resigniert. Die letzten Tage habe sie unaufhaltsam ihren Bekannten- und Freundeskreis in Moskau „agitiert“ – „damit sie zur Wahl gehen“.

Leider mußte sie feststellen: „Selbst die Nutznießer der Reformen begreifen nicht, was auf dem Spiel steht.“ Wahrscheinlich sieht sie die Dinge etwas zu düster. Doch die Wahlen haben tatsächlich die Älteren entschieden, die ihre Proteststimme den Kommunisten gaben. Ein Indiz dafür mag die hohe Wahlbeteiligung von 65 Prozent sein, 10 Prozent mehr als vor zwei Jahren.

Vertreter einflußreicher Geschäftskreise in Moskau wollten den Wahlausgang nicht kommentieren. Wahlen seien ein „politisches Ereignis“, ließen sie verlauten. Vielleicht birgt diese Zurückhaltung auch ein Moment der Zuversicht: Trotz des guten Abschneidens der Kommunisten stehen keine beunruhigenden Veränderungen ins Haus. Die Moskauer Börse reagierte ebenso gelassen. Der Dollarkurs veränderte sich um keinen Punkt gegenüber der letzten Notierung. Die Trennung von Politik und Wirtschaft wäre in Rußland für sich schon ein nennenswerter Fortschritt. Dennoch offenbarte der Wahlgang die tiefe Kluft, die Rußland trennt. Die ersten Meldungen, die noch in der Nacht aus dem fernen Osten des Landes eintrudelten, gaben wenig Anlaß zum Frohlocken. Die liberalen und reformerischen Kräfte spielen in Chabarowsk und Wladiwostok kaum eine Rolle.

In der strukturschwachen Region, die früher vom militärisch-industriellen Komplex lebte, gewannen die Kommunisten, und selbst Wladimir Schirinowskis Liberaldemokraten erhielten hier den größten Zuspruch. Wie schon 1993 schnitt Schirinowski unerwartet gut ab. Seine Wähler entscheiden sich erst in allerletzter Minute und werden daher von Umfragen nicht erfaßt. In der Bergarbeiter-Region im sibirischen Kemerowo erzielten die Kommunisten über 50 Prozent. Das verwundert nicht, weil die Kumpel dort mehrfach mit Streik drohten, nachdem man ihnen ihre Löhne nicht ausgezahlt hatte.

Je weiter gen Westen, desto reformfreundlicher stimmten die Wähler. In einigen Gebieten, so in Nischnij Nowgorod, läßt es sich auch daran ablesen, daß die amtierenden Gouverneure, die ebenfalls zur Wahl standen, zum zweitenmal den Zuschlag erhielten. Die Zentren Moskau und St. Petersburg stechen jedoch eindeutig aus dem Rest des Landes heraus. In Moskau erhielt Premierminister Tschernomyrdins Block ein Fünftel der Stimmen, gefolgt von Grigorij Jawlinskis liberaler Partei „Jabloko“.

Überraschend gut schnitt auch die Partei des ehemaligen Reformarchitekten Jegor Gaidar ab. „Wahl Rußland“ konnte über 11 Prozent für sich buchen, während die Kommunisten mit 15 Prozent etwas unter dem Landesdurchschnitt rangieren. Schirinowskis LDPR schaffte hier nicht einmal den Sprung über die Fünfprozenthürde. Klägliche 2,6 Prozent der Hauptstädter identifizierten sich mit dem effektheischenden Rechtsaußen. Klaus-Helge Donath, Moskau

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