: Zwei Mütter kämpfen um ein Kind
■ Der siebenjährige Andreas lebte den größten Teil seines Lebens in einer Pflegefamilie. Seine leibliche Mutter war heroinabhängig, sagte sich im Knast aber von den Drogen los. Nun will sie den Jungen zurück
Zwei Mütter kämpfen um ein Kind
Im „Kaukasischen Kreidekreis“ von Bertolt Brecht kämpfen zwei Mütter um ein Kind: Bei einem Umsturz in Grusinien wird der Gouverneur hingerichtet. Seiner Gattin gelingt es zu fliehen. Ihre Kleider nimmt die verwöhnte Frau mit. Ihr kleines Kind hingegen läßt sie zurück. Unter großen Opfern bringt die Magd Grusche den Säugling in Sicherheit und zieht ihn auf wie ihren eigenen. Nach dem Ende des Krieges kehrt die Gouverneursfrau zurück und will ihr Kind wiederhaben. Es kommt zum Prozeß. Der in den Kriegswirren als Richter eingesetzte ehemalige Dorfschreiber Azdak entscheidet den Fall mit Hilfe eines Kreidekreises, in den das Kind gestellt wird: „Die richtige Mutter wird die Kraft haben, das Kind aus dem Kreis zu ziehen.“
Kaum, daß der Zweikampf um das Kind begonnen hat, läßt Grusche los, weil sie ihm nicht weh tun will. Daraufhin spricht Azdak ihr das Kind zu: Nicht die leibliche Mutter soll das Kind bekommen, da sie es preisgegeben hat, sondern die „Mütterliche“, die es gerettet und aufgezogen hat.
Die Geschichte des kleinen Andreas Z.* und seiner beiden Mütter hat so manches mit dem „Kaukasischen Kreidekreis“ von Brecht gemein. Doch der Fall des Jungen, der in wenigen Wochen sieben Jahre alt wird, ist kein Theaterstück, sondern ein Stück aus dem wirklichen Leben. Das Kind lebt seit vier Jahren, also mehr als die Hälfte seines Lebens, bei der Pflegemutter K. und deren Ehemann. Seine leibliche Mutter, eine ehemalige Heroinabhängige, saß mehrere Jahre im Knast. Nachdem sich die 36jährige berufslose Frau dort von den Drogen losgesagt hatte, wurde sie im vergangenen Oktober vorzeitig aus der Haft entlassen. Wieder in Freiheit, versucht sie nun ihren Schulabschluß nachzuholen. Sie möchte ein neues Leben beginnen und ihr Kind wiederhaben.
Das wird nicht heute und nicht morgen sein, weiß die leibliche Mutter. Denn ihr ist klar, daß sie den Jungen nach so langer Zeit nicht einfach aus der Pflegefamilie reißen kann. Aber sie möchte ihn regelmäßig sehen, mit ihm etwas unternehmen und ihn mittelfristig, wenn alles gut läuft, am Wochenende zu sich nach Hause holen, wo sie auch ein Zimmer für ihn einrichten will. Auch möchte sie mit ihm in Urlaub fahren. „Irgendwann ist Andreas dann vielleicht in der Lage, selbst zu entscheiden, ob er ganz bei mir wohnen will“, ist ihre Hoffnung.
Das Problem ist nur: Andreas und seine Mutter haben sich seit vergangenen August nicht mehr gesehen. Bis dahin bekam Gerlinde Z. im Knast monatlich von Andreas und der Pflegemutter Besuch. Seit ihrer Entlassung hat es zwar unzählige Verabredungen gegeben, diese wurden von der Pflegemutter aber jedesmal kurzfristig abgesagt, meistens mit der Begründung, Andreas sei krank. Gerlinde Z. hält dies jedoch nicht für den wahren Grund. Sie glaubt, daß die Pflegemutter „Angst hat“, Andreas an sie zu verlieren. Der Streit um das Kind und das Besuchsrecht eskalierte derart, daß beide Mütter Anwälte einschalteten. Aber auf eine gerichtliche Auseinandersetzung wollten es beide Parteien bislang noch nicht ankommen lassen. Nach erregtem anwaltlichem Schriftwechsel mit gegenseitigen Schuldzuweisungen kam es zu vergeblichen Schlichtungsrunden. Eines haben die beiden Mütter nun aber immerhin erkannt: Wenn Andreas nicht der Leidtragende des Konkflikts bleiben soll, führt kein Weg daran vorbei, daß die beiden Frauen versuchen, ein freundschaftliches Verhältnis zueinander aufzubauen.
Nach Angaben der Anwältin der Pflegefamilie K., Barbara Merkel, hat sich die „klirrende Atmosphäre“ zwischen den Müttern schon lange vollständig auf den Jungen übertragen. „Das Kind lebt in der diffusen Angst, daß seine richtige Mutter irgendwann kommt und es von zu Hause wegholt. Die Anwältin wirft Gerlinde Z. vor, sie übe zusammen mit ihrer Bewährungshelferin einen „wahnsinnigen Druck“ auf den Jungen und die Pflegeeltern aus. Die Krankheiten des Kindes würden keineswegs vorgetäuscht, um einen Kontakt zu Frau Z. zu verhindern, sondern seien Ausdruck großer psychischer Not. Nachdem Frau Z. ihrem Kind bei dem letzten Besuch im August erzählt habe: „Ich habe in meiner Wohnung ein Zimmer für dich“, ziehe sich dem kleinen Wicht bei dem Wort „Mutter“ der Magen zusammen. „Ich kann verstehen, daß Frau Z. versuchen will, wiedergutzumachen, was sie versaut hat, aber das geht nicht mit der Ungeduld eines Kleinkindes“, so Merkel. „Wenn sie den Körperkontakt sucht und den Jungen in dem Arm nimmt, schüttelt es den Kleinen regelrecht.“
Gerlinde Z. und ihre Bewährungshelferin Marianne Echtermeyer schildern das krasse Gegenteil. Andreas habe bei den Treffen mit seiner Mutter sehr entspannt mit ihr gewirkt, mit ihr gespielt und sie mit Fragen über seine Babyzeit bedrängt. „Die Pflegemutter saß daneben und hat ganz streng geguckt. Wenn Andreas dann zufällig zu ihr aufgeblickt hat, ist er regelrecht zusammengezuckt, so als habe sie ihn bei etwas Verbotenem ertappt“, hat Marianne Echtermeyer beobachtet.
Das Verhältnis zwischen Gerlinde Z. und der Pflegemutter K. war nicht immer so schlecht. Die Frauen verstanden sich früher so gut, daß sie sich sogar freundschaftlich duzten. Als Gerlinde Z. beim Jugendamt Wedding den Dauerpflegevertrag unterzeichnet hatte, hatte sie sogar eigens handschriftlich vermerkt, daß sich dieser Vertrag nur auf die Familie K. beziehe: „Da ich einen guten Kontakt zur Pflegemutter habe, möchte ich keinen Wechsel.“
Gerlinde Z. war seit ihrem 13. Lebensjahr mit Unterbrechungen heroinabhängig. In der Zeit der Schwangerschaft bis sechs Wochen nach der Geburt von Andreas schaffte sie es nach eigenen Angaben, clean zu bleiben. Dann begann sie wieder zu drücken. Heute begründet sie dies damit, daß Andreas Vater, ein Dachdecker, mit dem sie verheiratet war, sie im Suff immer verprügelt habe. Gerlinde Z. verließ den Mann und zog mit dem Säugling zu ihrem neuen Freund, der gleichfalls drogenabhängig war.
Andreas war noch kein Jahr alt, da war sie schon wieder „voll auf Droge“ und beging diverse Straftaten, um sich ihre tägliche Heroinration beschaffen zu können. Wie sehr das Kind unter ihrer Drogenabhängigkeit gelitten hat, vermag sie nicht zu sagen, betont aber, daß sie den Kleinen nie mit auf die Szene geschleppt habe. „Ich habe zu Hause gedealt.“ Kurz vor Andreas' drittem Geburtstag habe sie gemerkt, daß sie das Kind nicht mehr richtig versorgen könne, und habe deshalb das Weddinger Jugendamt um Hilfe gebeten. „Ich war total fertig.“ Mit ihrem Einverständnis wurde das Kind zu den Pflegeeltern K. gegeben, die keine eigenen Kinder haben. Frau K. ist als Tagesmutter tätig, ihr Mann arbeitet bei der BVG. Ursprünglich sollte es nur eine sogenannte Kurzpflegestelle für Andreas sein, bis Gerlinde Z. entzogen hatte. Doch daraus wurde nichts. Anfangs besuchte die Mutter ihren Sohn noch regelmäßig bei der Pflegefamilie, doch dann „stürzte“ sie „voll ab“. „Ich hatte furchtbare Gewissensbisse, weil ich mich als Rabenmutter empfand“, erinnert sich Gerlinde Z. heute.
Ein Jahr später landete die Frau wegen ihrer zahlreichen Straftaten in Untersuchungshaft und wurde zu einer Freiheitsstrafe von dreieinhalb Jahren verurteilt. Zu diesem Zeitpunkt war Andreas vier Jahre alt. Einvernehmlich unterschrieben Pflegemutter und leibliche Mutter beim Jugendamt den Dauerpflegevertrag, der bis zur Volljährigkeit von Andreas dauern kann, aber auch jederzeit kündbar ist (siehe Kasten). Zu diesem Zeitpunkt verband die beiden Frauen noch ein sehr freundschaftliches Verhältnis, „sonst hätte ich dem niemals zugestimmt“, so Gerlinde Z. Warnungen Dritter, die Pflegemutter würde sich bestimmt in Andreas „verlieben“ und Gerlinde Z. das Kind nie wiedergeben, schlug Gerlinde Z. in den Wind. „Denn Frau K. hat mir persönlich versichert: Geri, du brauchst keine Angst zu haben. Wenn alles okay ist, gebe ich dir Andreas doch wieder.“
Doch es kam alles ganz anders. Gerlinde Z.'s Bewährungshelferin Echtermeyer wirft den zuständigen Sozialarbeiterinnen des Jugendamts Wedding Parteilichkeit vor. Schließlich habe das Amt die Pflicht, für eine gute Kooperation zwischen der leiblichen und der Pflegemutter zu sorgen. Das Amt tue aber nichts, um in diesem Sinne auf Frau K. einzuwirken, und berücksichtige auch nicht die positive drogenfreie Entwicklung von Gerlinde Z. Der Weddinger Jugendstadtrat Klaus Seidel (CDU) weigerte sich aus datenschutzrechtlichen Gründen, Auskunft über den Fall geben. „Das Wohl des Kindes muß im Mittelpunkt stehen, im Zweifel muß das Gericht entscheiden“, erklärte er lapidar.
Die Anwältin der Gegenseite, Merkel, geht mit Verweis auf die höchstrichterliche Rechtsprechung davon aus, daß Gerlinde Z. bei einem Prozeß unterliegen würde. Für Andreas wäre es aber allemal besser, wenn sich die Mütter wiederannäherten, erklärte Merkel stellvertretend für die Pflegemutter.
Der Anfang ist gemacht. Gestern trafen sich die beiden Frauen zum zweiten Mal ohne Andreas in einer Konfliktberatungsstelle im Beisein eines Psychologen. Gerlinde Z. will notfalls hundert solcher Gespräche mit Frau K. führen, um dieser klarzumachen, „daß sie Andreas ein Stück weit loslassen muß. Ich will Andreas alle 14 Tage Samstags ohne sie treffen.“ Die Gefahr, daß sie den Jungen ganz zu sich holen wolle, bestehe auf absehbare Zeit überhaupt nicht, weil sie dazu noch viel zu sehr mit der Bewältigung ihrer Sucht zu kämpfen habe. Von ihrer Drogentherapeutin hat sich Gerlinde Z. jetzt ein Buch von Brecht ausgeliehen: den Kaukasischen Kreidekreis.
*Name geändert
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