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Guerilla nimmt Tausende Geiseln

■ Tschetschenische Rebellen überfallen Krankenhaus und fordern ultimativ den Abzug der russischen Armee

Moskau (rtr/AP/taz) – Eine Gruppe tschetschenischer Rebellen hat in der Nacht zum Dienstag die Stadt Kisljar in der Nachbarrepublik Dagestan überfallen und in einer Klinik zwischen 2.000 und 3.000 Geiseln genommen. 470 von ihnen sind Kranke und rund 500 Angestellte. Außerdem sollen die Rebellen zuvor in den Straßen der Stadt wahllos Menschen verschleppt haben. Zwei der Geiseln wurden nach Angaben der russischen Nachrichtenagentur Interfax am Nachmittag erschossen. Zuvor hatten die Rebellen gedroht, alle Geiseln zu ermorden, falls Rußland nicht seine Truppen aus Tschetschenien abziehe. Bei nächtlichen Kämpfen mit den Sicherheitskräften waren nach Angaben der Behörden mindestens dreizehn Menschen getötet worden, unter ihnen fünf Zivilisten.

Das Kommando mit dem Namen Einsamer Wolf besteht nach russischen Angaben aus bis zu 600 Kämpfern und wird von Salman Radujew angeführt, einem Schwiegersohn des von Moskau nicht anerkannten tschetschenischen Präsidenten Dschochar Dudajew. Das russische Innenministerium sprach am Abend von 2.000 Geiseln, die sich in der Gewalt der Rebellen befänden. Andere Quellen berichteten von bis zu 3.000 Menschen. Der Krankenhauskomplex, in dem sich auch eine Entbindungsklinik befindet, wurde von Truppen umstellt. Außerdem riegelten Militärs die Zufahrten zu der 40.000-Einwohner- Stadt ab. Die Rebellen sollen zunächst versucht haben, einen Militärflughafen einzunehmen, seien aber zurückgeschlagen worden. Bei der Erstürmung des Krankenhauses durch die Guerilla kam es zu heftigen Schußwechseln und Explosionen. Aus den Wäldern um Kisljar schossen die Rebellen gezielt auf Häuser und Straßen.

Präsident Boris Jelzin berief in Moskau eine Sondersitzung ein und kündigte ein entschlossenes Vorgehen an. Den zuständigen Behörden und Ministerien warf Jelzin dabei Untätigkeit vor. Sie hätten aus dem Geiseldrama von Budjonnowsk, bei dem im vergangenen Juni 123 Menschen getötet worden waren, offenbar nichts gelernt. Obwohl es Informationen über den Marsch der Rebellen auf Kisljar gegeben habe, sei nichts unternommen worden. „Wie soll ich das verstehen, Generäle? Glauben Sie, hier geht es um ein Kinderspiel“, empörte sich Jelzin. „Die Grenztruppen haben geschlafen.“

Unter der Leitung von Ministerpräsident Tschernomyrdin kam auch das Kabinett zu einer Sondersitzung zusammen. Um Terroranschläge zu verhindern, wurden die Sicherheitsvorkehrungen in Moskau verstärkt. Tagesthema Seite 3

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