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„Kreativität und Suff, da ist was dran“

Er trinkt, und das ist kein Wunder, wie er findet: Er ist Journalist. Zu seinem Job gehört der Alkohol wie der Notizblock. Diese Geschichte ist seine eigene Geschichte. Seine Hände zittern, er ist patschnaß, und wenn er nachts aufwacht, sieht er sich selber im Dreck: verschütteter Weißwein überall, Kippen und Asche, Korken, und in der Plastikschüssel schwappen die Kotzefäden. „Ich zähle 23 Flaschen rund ums Bett, eine auf dem Klo – wie kommt der Sancerre aufs Klo? – und vier auf den verklebte Manuskriptseiten neben der Schreibmaschine.“ Und irgendwann sagt er sich: „Ich hab' mir das eingebrockt, ich löffle das aus“  ■ Von * * *

Die Angst beim Erwachen. Die Angst vor dem Tag. Die Angst, es riecht wer, die Angst, es sieht wer. Die Verzweiflung über die klatschnasse Stirn. Der Horror vor: „Hallo, wie geht's! Was hast du die Feiertage über gemacht? Ich habe versucht, dich anzurufen! Wo hast du gesteckt?“

Um neun fängt niemand an. Um neun sind nur das Archiv und die Nachrichten besetzt. Kein Mensch ist im Treppenhaus. Neun Stockwerke! Ich kriege kaum die Füße auf den Schreibtisch, ich bin patschnaß. Auf dem Tisch nur Fremdmanuskripte: Ich weiß, wie stabil meine Korrekturzeichen jetzt aussehen, wenn ich die redigiere. Unmöglich, geht nicht, ich kann mich hier nicht zeigen, ich muß weg!

Fieberhaft suche ich nach Reportagethemen. Ich krame in meinem Handarchiv ... „Afghanistan“? Will er nicht ... „Angola“? Mag er nicht. Mal wieder nach Beirut? Vielleicht „Carlos“? Zu dessen Familie nach Venezuela? „Jugoslawien“ zur Not? Ausländische Söldner? Jugoslawien will niemand mehr lesen, hören, sehen. „Kaffee?“ grüßt das Mädchen in der Tür.

Ich halte die Kaffeetasse mit beiden Händen fest, auf dem Gang die ersten Kollegen. – „Was machst du denn schon hier!“ Der Bote knallt mir den Pack Zeitungen auf den Tisch und ein Telex. Die „Kultur“ kommt ins Zimmer. „Na!“ grüßt Hans. „So wie dir!“ grüße ich zurück. Hans ist auch Profi (Spätburgunder). Er trinkt sich zwei-, dreimal im Monat bis an die Untergrenze eines Rausches, ich saufe zwei-, dreimal im Jahr bis zur Besinnungslosigkeit: Er trinkt öffentlich, ich heimlich.

Ich begutachte mich auf der Toilette und wische kalten Schweiß ab. Die Night Cream hat nichts gebracht, die Maske heute morgen nichts; weg sind Refreshing, Pflegelotion und der Beauty Stuck um die Augen. Vielleicht ein bißchen „sehr übernächtigt“? Könnte so durchgehen. Nur Amateure halten an ihrem Irrglauben „Deo, Eau de Cologne, Mundspray, Kaugummi“ fest. Profis nehmen Nelkenöl (und du riechst im Mund wie deine Zahnklinik).

Gleich ist Themenkonferenz. Bebt die Stimme oder bebt sie nicht? Die Motorik etwas abgehackt und noch nicht rund, die Sehverhältnisse erscheinen mir wie Weitwinkelperspektive, ich nehme die vierte halbe Schlaftablette heute morgen.

Als letzter rein, ans äußerste Tischende, mucksmäuschenstill, unauffällig mit der Hand über die Stirn. Hinrichtung Konferenz – und gleich etwas erleichtert: Der Chefredakteur mustert mich kurz.

Ich seh' mich in der Runde um, wem's noch so geht wie mir. Pastice sieht gut aus. Lisa und ich sehen uns an, wir wissen Bescheid! Eher schminkt sie sich das Alter weg als ihre hektisch roten Flecken (Wodka-Feige). Beate (Champagner?) hält sich das Taschentuch vor Mund und Backe. Zahnschmerzen, abgewandelt. Walter (Cola- Cognac) schreibt seine Giftmüllstories manchmal zweimal – das zweite Mal nüchtern. Er ist unser Chronometer. Wenn bei ihm die Flasche auf dem Layout-Tisch steht, können wir auch. „Die Normalzeit“ setzt ein um 17, 18 Uhr, wenn in lockeren Grüppchen die ersten Korken durch die Korridore knallen. Ausstand, Einstand, Dienstjubiläum, Geburtstag, Wochenende – der Mittwoch ist auch ein Grund: Da wird die Woche geteilt.

Die Hoch-Zeit in der Tagespresse beginnt zwischen Korrekturfahne und Andruck, die Frauenzeitschriften tendieren zu Piccolo und Pinot gris, die Medien Emanzipierter bevorzugen Fencheltee und Bier, und die Kollegen von der Boulevardpresse trinken erst nach Ablieferung ihrer Geschichten: Damit sie diese nach Drucklegung nicht mehr als ihre Geschichte erkennen müssen; Fotografen trinken nur nach getaner Arbeit und nur „an der Front“ – auf Reportage. Wenn wir über Auswirkungen von Alkohol berichten, sind Gastwirte, Ärzte und geistliche Würdenträger der gefährdete Personenkreis. Wir hocken zusammen und quatschen über Drogen, über Alkohol reden wir nie. Nie hatte wer Leberzirrhose von uns. Wenn wir trinken, hat das nichts mit Streß zu tun. Die hohe Scheidungsrate in unserer Mitte ist nicht auf Alkohol zurückzuführen.

Neulich hat mich Walter morgens um Viertel nach zwei angerufen im Bedürfnis, alte Zeiten zu glorifizieren und alte Freunde durchzuhecheln – was macht dieser heute, wo ist jener: Unser Ex- Chefredakteur, der mit dem Champagner aus (undurchsichtigen) Zinnbechern, privatisiert in südlichen Gefilden auf seinem Refugium. „Jetzt kann er ja endlich aus Gläsern trinken“, habe wir gelacht ..., „braucht sich auch nach 19 Uhr nicht mehr einzuschließen.“

Die Zurückhaltung endet am frühen Abend – der Auftakt für unsere langen Nachtsitzungen. Keiner fragt mehr, warum der Chefredakteur innerhalb von zwei Nächten ohne aktuellen Anlaß dreimal das Heft umschmeißt. Redaktionskonferenz, Themenkonferenz, Konferenz Ressortleiter/ Chefreporter, Titelkonferenz, rund um die Uhr Einfälle, spritzige Ideen, Kreativität und Suff, da ist was dran.

Ich habe Hunger und kann nicht essen gehen. Wie soll ich mit Messer und Gabel herumfuhrwerken vor allen anderen? Den Nachmittag über telefonieren, schauspielern. Zeitungen lesen; auf einem Blatt Papier übe ich Korrekturzeichen. Um 15 Uhr tickert das Chefsekretariat „Stehempfang“. Das darf doch nicht wahr sein – schon wieder! Der Verleger ruft zu Champagner. Der Toast diesmal: der Verkaufserfolg des Titels von vergangener Woche. Da beruhigen sich gerade so halbwegs die Hände, und du mußt zum Champagner – auf daß augenblicklich die Hand wieder flattert, die das Glas hält neben dem Verleger! Trinkst du Wasser, muß es dir schlecht gehen, und jeder kennt den Grund.

Nach der fünften halben Schlaftablette ist mir wohler. Gegen Abend gehe ich mit Hans ins Café, unsere „Außenredaktion“, wo wir auf Beat treffen, der sich am Tee festhält. Beat, das wissen wir, hat keinen Sonnenbrand, leidet nicht unter Bluthochdruck und ist auch kein Indianer.

Er hat nur manchmal einen erbarmungslosen Job: um 10 Uhr zu den Aperitifs der Vernissage, um 12 Uhr zur Degustation des neuen Jahrgangs, um 17 Uhr zu Bier vom Faß zur Eröffnung der neuen Filiale des Touring Clubs und um 19 Uhr zum Champagnerbuffet „Verabschiedung Theaterdirektor“. Beat ist Lokalreporter beim Anzeiger.

Mein früherer Verlag hat wenigstens ein Bett für mich und meine kreislaufgefährdeten Kollegen. Jahrein, jahraus reserviert zwischen Heckenrosen und Magnolien am See.

Blick zurück im Dreck. Die Schmiere verstreuter Asche in verschüttetem Weißwein überall, zerknüllte Zigarettenschachteln, Stummel, Korken, der Teppichboden ist versaut, das Schlafzimmer stinkt, in der Plastikschüssel schwappen die Kotzefäden. Ich zähle 23 Flaschen rund ums Bett, eine auf dem Klo – wie kommt Sancerre aufs Klo? – und vier auf den verklebten Manuskriptseiten neben der Schreibmaschine.

Die Angst vor dem Schreiben. Die unzähligen Tippfehler. Du erschrickst davor, was du gemacht hast: dein Innerstes nach außen gekehrt. Aufgeschlagen stehen da deine Denkart, dein Wesen, dein Charakter. Du zeigst dich nackt.

Gute Geschichten – Journalistenweisheit – schreibt man aus dem Bauch. Fakten und Informationen stören nur den Schreibablauf. Aber du speicherst das Material im Kopf und zerlegst es zuerst mit dem Kopf, bis es wie Flüssignahrung aufgesogen wird, nach und nach von deinem Inneren, und gärt. So lange, bis du in der Geschichte lebst.

Dann ist es soweit. Dann dient der Kopf nur noch der Übersicht: die Gefühle reglementieren, Objektivität und Kritikfähigkeit wahren. Logik, Sachverhalt, Zusammenhang, Dramaturgie und Satzbau sind nur Handwerk und Routine für den Kopf. Schreiben tut der Bauch, davor steht die Angst.

Ein Glas Sancerre zur Lockerung geht immer schief bei mir. Ich reiße die angefangene Seite aus der Maschine, suche Einkaufssäcke für die leeren Flaschen, Fleckenwasser und Staubsauger.

Meine Schwester kommt nicht mehr. Brigitte war die einzige, die nach mir gesehen hat, wenn ich nicht mehr aufstehen konnte. Hat mir was zu essen gemacht, mir Zigaretten und Mineralwasser ohne Kohlensäure gebracht. „Ich brauche was“, habe ich gesagt. „Nein, keinen Notarzt. Ich muß jetzt was haben!“ Ich habe gebettelt, sie angefleht. „Ein allerletztes Mal, ich schwör's, dann ist Schluß!“

Brigitte hat mir eine Flasche Wein gebracht und am nächsten Tag wieder eine, dann ist sie weggeblieben, hat mich hängenlassen.

Julie kommt nie, wenn's mir mies geht. Alkohol stößt sie ab. Das hat es in ihrer Familie nie gegeben, ergo ist's kein Thema. Julie hat Angst vor den Auswirkungen.

Freunde, Familie ... Daß die es immer erst nicht wahrhaben wollen, wenn einer von ihnen zum Trinker mutiert, daß es versteckt wird. Totgeschwiegen. Auch aus Angst, mit abgestempelt zu werden.

Auch Ashia mag mich so nicht. Er springt dann nicht aufs Bett, lacht mich nicht mehr an, wenn er mich sieht, hält Abstand, wedelt nicht mit dem Schwanz und will nicht gestreichelt werden von mir, er ignoriert mich. Der Zottelhund von Brigitte sieht mich nur an, fast naserümpfend, von unten. Das sitzt! Tiefer treffen kann mich kein Mensch. „Ashia“ ist Afrikanisch und heißt „Du tust mir ja so leid“.

„Was du erreichen wolltest, hast du immer erreicht“, sagt meine Schwester Brigitte. „Sie haben einen ausgeprägt starken Willen“, sagt mein Hausarzt. „Deine Verbissenheit möchte ich haben“, sagt der Kollege. „Du mußt nur wollen“, sagt Julie.

Ich habe einen guten Ruf beruflich. Im Ausland kennt mich niemand. Ich bin angemeldet beim Therapeuten. Wir kennen uns nicht, ich bin „im Verlagswesen tätig, freiberuflich“. Und Dr.S. wird nicht mitbekommen, daß ich therapieerfahren bin, alle Arten von Selbsthilfegruppen, Blaukreuzler, Anonyme Alkoholiker, bis zum Überdruß kenne. Mal sehen, was er sagt. Nicht, daß ich Hilfe suchte. Ich will wissen, ob ich etwas übersehen habe in meinen Gedankengängen. Dafür zahle ich schließlich.

Kindheit, Elternhaus, Jugend – das kann der sich gleich abschminken, da ist nichts. Ich habe keine Sorgen, Probleme, Ängste, alles kalter Kaffee! Jetzt hören die ja vermehrt zu, wollen unterstützend wirken hin zur Selbsterkenntnis.

Eine „Krücke“ liegt bei mir daheim seit Monaten in der Ecke, originalverpackt – „Antabus“, vom Golfpartner-Apotheker, 100 Stück. Morgens eine, abends eine, habe ich mir sagen lassen, und du trinkst keinen Schluck mehr. Du kannst nicht mal am Korken riechen, ohne daß du dich angewidert abwendest. Sogar vor Salat, mit Weinessig angemacht, würgt's dich. Wenn du die nimmst und dann nur ein Glas trinkst, bist du weg vom Fenster, dann kotzt du wie ein Reiher, dein Kreislauf bricht zusammen, du bist froh, das rettende Bett zu erreichen. Ich habe noch nie eine genommen. Reserve? Angst? Was hat der Chefarzt des Spitals gesagt? „Der Therapeut, von dem Sie sich therapieren lassen, ist noch nicht gefunden.“

Wie weit bin ich schon, daß ich mich vor Scham verkrieche vor einem Hund! Der Wein auf dem Klo, natürlich! Wegschütten, mal wieder wegschütten wollte ich den, wie schon so oft. Wahrscheinlich war's zu spät. Ich mag weder Wein noch Bier, noch Schnaps. Ich trinke nicht. Ich schütte das Wasserglas voll in mich hinein, und dann noch mal. Dann kann ich trinken. Dann mag ich auch amerikanische TV-Serien und deutsche Fernsehshows, liebe RTL und Sat. Dann mag ich alles in der Welt und alle Menschen, die UNO und Aidskranke und Schwule und alle Psychologen und Therapeuten. Dann ist alles sonnig.

Andere trinken gegen Scheidung, Liebeskummer, Arbeitsplatzverlust, Geldsorgen an. Ich saufe, wenn's mir gutgehen soll. „Ich kann jederzeit aufhören!“ sagen Idioten.

Pferdestall, Golfplatz, Squash – ich saufe nicht immer. Aber – wie die Werbung daherlabert – „immer öfter“. Die Abstände der monatelangen Abstinenz werden immer enger. Ich will nicht abwarten, bis die Wissenschaft herausgefunden und bewiesen hat, daß diese Sucht biologisch, biochemisch oder genetisch bedingt ist – und dann kann ich sowieso nichts dafür.

Hotels, Motels, Flughäfen, Langeweile, Warterei, Lounges, Schlafwagen, Bars und Bistros sind oft der Treff, der Meeting Point die Theke. Was für den armen Schlucker der Kiosk, ist die Minibar für den Schlucker mit Kreditkarte. „Im Dschungel“, sage ich mal, „brauchst du das Zeug zum Zähneputzen und in Krisengebieten zum Desinfizieren für alle Fälle.“ Ich brauche einen Vorwand! Und 100- Dollar-Whisky ist zum Ausspucken zu schade.

Das islamische Land, wo unsereins nichts findet, muß erst gegründet werden. Du kommst von der Reise zurück, kannst dich weder bei Julie sehen lassen noch in der Redaktion. Morgen, sagst du, morgen bist du fit. Also übernachtest du im Hotel.

„Gut amüsiert?“ lacht mich mein Verleger an. „Ja ja“, sage ich zur Vorsicht und drücke mich noch enger in den Lift. Ich weiß nicht, was der meint! Achtes Stockwerk, neuntes! „Die Mädchen am Tejo haben Ihnen ja ganz schön eingeheizt!“ höre ich noch hinter mir. Was soll das? Ich bin okay. „Tejo?“ Tage zuvor war ich in Lissabon gewesen, alles okay. Ich habe auch ein Gläschen getrunken dort. Aber sonst? Ich kenne keine Mädchen in Lissabon. Am Abend läßt mich der Chefredakteur kommen. „Und noch etwas“, sagt er, „der Verleger läßt ausrichten, daß Sie ihn doch bitte nicht wegen irgendwelcher Mädchen, die Sie nicht mehr aus dem Zimmer kriegen, um Rat fragen nachts um drei.“

Schreibtischschublade auf, Ticket raus, Taxirechnungen, Hotelrechnung! Da steht's! Ausgedruckt im Anhang. Die Telefonnummer des Verlegers! Und die Uhrzeit.

Skandinavien! „Skål!“ Morgens zur Akupunktur, damit du nicht so flatterst für die nächsten Stunden Arbeit. Schlimm ist der Ostblock. Billigschnaps war oft die einzige Dekoration in den Regalen der DDR. In allerhöchster Verzweiflung weist du sogar die Gastfreundschaft zurück. In Rußland lehnt keiner das Gläschen Wodka ab! Und die russischen Gläschen sind Wassergläser. Zu denken, wer säuft, säuft gern ... Die Gastfreundschaft in Rußland ist die Hölle.

Das macht still. Ich ziehe mich zurück. Freundschaften verkümmern, nette Bekanntschaften sterben.

Julies einfältiger Singsang reizt mich bis zur Weißglut. Refrain Nummer 1: „Kannst du mir mal erklären, warum du trinkst?“ Refrain Nummer 2: „Du mußt nur wollen!“ Refrain Nummer 3: „Macht es dir etwas aus, wenn wir was trinken?“

Refrain Nummer 3 sagt sie nie, wenn wir allein sind und sie sich einschenkt. Nummer 3 wiederholt sie immer nur coram publico. Vergeltung aus Enttäuschung? Wut? Haß?

Die müssen gar nichts sagen. Das schlechte Gewissen sieht, hört heraus, interpretiert hinein. Ich trau mich ja kaum noch wohin. Prostet mir (Espresso) kürzlich eine flüchtige Bekannte über den Sektglasrand im Theaterfoyer zu. Was soll das, was heißt das, was weiß die!

Ich fahre zu Shell, weil ich Sprit brauche; oder zu BP oder Esso. Aber nur nachts. Dann ist mir die Qualität egal. Dann ist es mir mitunter sogar schnuppe, ob der Tankwart meinen zitternden Händen beim Abzählen des Kleingeldes behilflich ist oder nicht. Dann bin ich immer unrasiert und ungewaschen, die Haare angepeppt mit Wasser. Wie ein Penner. Die Hauptsache, ich kriege was. Tankstellen sind auch eine Quelle für Säufer mit und ohne Führerschein. Meine Tankstelle hat auf bis Mitternacht; der Tankwart kennt die Spezies: Jener, der nachts volltankt und ein, zwei Flaschen mitnimmt, ist harmlos („normales Trinkverhalten“). Der Kunde, der volltankt und noch zwei, drei winzige Fläschchen Weinbrand oder ähnliches mitnimmt, braucht's sofort, unterwegs. Kein Säufer macht dem anderen Säufer was vor.

Vor dem Tankwart mußt du nichts vertuschen, die Tankstelle kennt dich besser als der Supermarkt. Ich kenne alle Supermärkte in meinem Umkreis wie alle Glascontainer. Einkaufen wie entsorgen ist kein Problem, sondern peinlich. Wirf zwei, drei Flaschen in den Glascontainer – das macht jeder.

Entsorge 30 Flaschen – dann stehst du, vor Hast schwitzend, zehn Minuten da und schreckst mit jeder einzelnen Flasche die Anwohner auf. Kilometerweit hallt dir das im Ohr, dieses demaskierende Geräusch. Wenn die Container halb voll sind, legst du die Flaschen behutsam hinein, lautlos.

„Wenn Sie arbeiten, arbeiten Sie exzessiv. Wenn Sie Sport treiben, machen Sie das exzessiv. Wenn Sie trinken, trinken Sie exzessiv. Versuchen Sie's mal mit der Mitte des Lebens.“ Da ist viel dran. Das hat mir kein Therapeut gesagt. Das war ein Pfarrer.

Gruppentherapie. Mir geht es gut, ich fühle mich fehl am Platze. Jeder in der Runde trinkt gern – wenngleich zuviel. Was soll ich also hier? Das Bemühen des Therapeuten beschränkt sich im wesentlichen darauf, die Leute von selbst erkennen zu lassen, wer sie sind. Das gilt nicht mir, ist vergeudete Zeit. Dazu brauche ich keine „Gruppe“.

Je länger ich dort hingehe, desto länger trinke ich nichts. Ich gehe so lange hin, bis der Alkohol in weite Ferne rückt – und mich nichts mehr angeht. Dann fahre ich nicht mehr über die Grenze.

Ich komme mir in der Runde vor wie als Kind in der Schule. Wenn ich nicht aufgepaßt habe, mußte ich nachsitzen. Sitze ich jetzt fürs Leben nach? Freiwillig, weil ich wieder nicht aufpasse?

Sag mal zu dir selbst: Ich bin ein Säufer. Kein Problem. Sag mal: Ich bin Alkoholiker. Sagen, nur sagen. Aber das will ich nicht sagen. Dazu brauche ich auch keinen Therapeuten, Psychologen. Vor allem will ich nicht in irgendeiner Gruppe hocken und mir anhören, daß dieser seit 14 und jener seit 19 Jahren „trocken“ ist.

Ich will nicht „trocken“ sein. Ich will wieder „gesund“, wieder „normal“ werden. „Trocken“ heißt für mich nicht gesund, sondern „gehfähig“.

Ich habe Hunger. Die Hände sind wieder rot und die Arme. Ich möchte schlafen – ich brauche was! Der Lendenwirbel ... Ich mußte mich umdrehen, vorsichtig, schieb die Bettdecke weg, auf den Bauch. Jetzt, ruh dich aus. Flaschen, Flaschen, überall Flaschen, der Fernseher läuft ohne Ton. Ich muß staubwischen. Du versäufst noch deine Augen. Ich darf mir die Augen nicht kaputtmachen, es muß Schluß sein damit. Alles, nur nicht die Augen ... Scheißhirnzellen. Ich bin doch klar im Kopf, Mensch, sieht das Leintuch aus: zweiunddreißig, dreiunddreißig, alle leer ... in den Flaschen muß überall noch ein Restchen drin sein. Wie spät ist es? Ist jetzt Nacht? Die Uhr ... halb elf; was für halb elf?

Ich starre in die Plastikschüssel mit der Kotze, drei, vier Zentimeter hoch. Der Bart ... macht zusammen vielleicht fünf, sechs Tage? Ist heute Mittwoch? Draußen muß es dunkel sein. Ich brauch' was, halb elf und dunkel, dann hat die Tankstelle noch auf. Ich muß aufhören! Hör auf zu saufen! Kriech über den Teppich, wenn du nicht stehen kannst, gut so, in der Jeans ist nichts. Sie hat den Zündschlüssel mitgenommen! Ich schwör dir's, das hast du nicht umsonst gemacht!

Denken, du mußt denken. Du brauchst was, du mußt dir was holen, laß dir was einfallen, versuch zu stehen. Am Kleiderschrank hoch geht's. Wenn die jetzt kommt, kann sie den Notarzt holen, ich versprech's. Der Zweitschlüssel! Halte dich an den Wänden fest, zur Treppe. Du mußt dich setzen, eine Stufe nach der anderen, ja. Schluß! Ich kann so nicht Auto fahren, ich muß ausruhen, ich muß überlegen, komm nicht in Panik, laß dir was einfallen ... Ich kann nicht stehen. Denke nach ...

Irgendwann stellst du fest, daß es nicht halb elf Uhr ist am Abend, sondern halb zwei Uhr morgens. Die Tankstelle hat zu. Der Pizzaservice hat zu, der Taxibestelldienst kriegt nirgends was. Du entdeckst, daß deine Schwester auch den Zweitschlüssel fürs Auto mitgenommen hat. Daß damit auch Autobahntankstellen nicht in Frage kommen.

Du kriechst auf dem Bauch von der Küche ins Bad und strahlst wieder. Weil du in der schmutzigen Wäsche in der Waschmaschine noch eine Flasche hast – ausgelegt als Köder für Brigitte, die alles durchsucht, bevor sie wieder verschwindet. Sie kennt das Versteck und hat es diesmal vergessen oder sich gesagt, dann soll er halt verrecken.

Letztes Jahr hat die Gerichtsmedizin Werner aufgeschnitten bis zum Hals und mit großen Stichen wieder zusammengeflickt und den dicken schwarzen Faden unter der Kinnspitze verknotet, Herzversagen, der Stoffwechsel sei zusammengebrochen, hat der Hausarzt gesagt und die Polizei gerufen.

Werner war 37, zuckerkrank und hat sich totgesoffen. Kam nie raus, hat eine Segeljacht versoffen, ein Mietshaus versoffen, hat fast zehn Jahre lang überall Therapien gemacht und alles selbst bezahlt, ein Vermögen. Jetzt hat er seine Ruhe, tröstest du dich.

Die Entgiftung selbst, allein im Bett, du säufst allein, ohne andere zu belasten, also hörst du auch damit auf, ohne andere zu belasten. Ich habe mir das eingebrockt, ich löffle das aus.

Du läßt die Post auf dem Amt lagern, rufst Leute vorher an, um mitzuteilen, daß du die nächsten 14 Tage auf Reportage mußt, und dann ziehst du das Telefon raus. Du kaufst Kamillentee und Milchprodukte und Mineralwasser ohne Kohlensäure in einer Art von Weitsicht vorher ein. Essen brauchst du nicht, nur Zigaretten, ein paar Stangen.

Dann trinkst du, schläfst ein und wachst auf und trinkst weiter, bis der Körper den Alkohol nicht mehr annimmt. Du übergibst dich und trinkst weiter. Du übergibst dich und trinkst bis zu dem Punkt, wo du den Wein nicht mehr riechen kannst. Du setzt das Glas an und kannst es nicht mehr trinken. Dann ist Schluß. Und du wünscht dir, daß du vielleicht ein paar Stunden später doch weitertrinken kannst. Aus Angst vor dem Danach. Du weißt, daß der Moment kommt, wo du aufhörst. Davor gerätst du vor Angst in Panik.

Du hast dich mit dem Begriff „Selbstzerstörung“ auseinandergesetzt, oft, und du willst dich nicht kaputtmachen. Draußen wird es hell, und die Vögel zwitschern. Ich kann's nicht hören, das ist widerlich. Du siehst die Reitstiefel in der Ecke, nachher scheint die Sonne, die Wiesen sind grün ... ich muß was trinken.

Du weißt, was gleich passiert. Du kannst dich nicht mehr bewegen vor Schmerzen in den Gliedern. Rückenlage, denkst du. Energie sparen. Dein Kopf ist klar und kalt, Arme und Beine glühen. Du hast lange nichts mehr getrunken. Du hörst in dich hinein auf jedes Organ. Du hörst Musik, wo keine ist, du siehst Nebel im Schlafzimmer und denkst: Das ist das Delirium. Wenn du dich ruckartig hochlehnst aus deinem verdreckten Bett, fällst du benommen nach hinten; du bist schon ohnmächtig geworden. Du hast Angst vor dem Kollaps. So willst du nicht krepieren.

Du liegst still auf dem Rücken, wie in einem Sarg – 24 Stunden lang, 48 Stunden lang. Am dritten Tag hebst du sacht die Finger, die Arme, krümmst die Zehen. Es ist nicht mehr so heiß, der Körper bebt nicht mehr, du hast es wieder mal geschafft. Du freust dich – noch einen Tag, dann kannst du Baldrian nehmen für den Entzug, oder Valium. Du kannst dich jedenfalls wieder bewegen. Du kannst dich rasieren, duschen. Du fühlst dich wie neugeboren.

„Du mußt nur wollen“ – so dumm ist das nicht. Nur mißverstanden von jenem, der es sagt, und mißverständlich für den, der es hört. Wille kommt von Hirn, Verstand. Dieses Wollen ist damit gemeint. Das ist falsch. „Du mußt nur wollen“ darf nicht vom Kopf kommen. Das muß von innen heraus entstehen wie der „Bauch“ beim Schreiben. Die innere Bereitschaft, nicht mehr zu wollen. Dann verschwindet auch der Suff als Mittelpunkt deines Denkens und als Nabel der Welt von allein. Aus Vernunft, aus Abscheu? Nein, ich muß nicht mehr wollen, von innen heraus.

Du gehst in den Dorfladen und kaufst die Zeitung. Du willst nur den Tag wissen. Du lebst wieder.

Julie hat dazu geschwiegen, daß ich was über Suff mache, über das Innenleben eines Trinkers. Gerade habe ich sie angerufen. Julie hat Angst gehabt, „du und dieses Thema“.

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