: Ein m2 Ottokar für 22 Mark
Das Kinderzentrum am Engeldamm in Mitte steht vor dem Aus. Ab Januar fließen keine Gelder mehr. „Ottokar“ sucht nun Quadratmeterpaten ■ Von Kathi Seefeld
Schulschluß. Sascha hat seine Hausschlüssel vergessen. Er könnte der Mutter eines Kumpels auf den Wecker fallen oder durch die Gegend streifen. Bei acht Grad Minus nicht gerade die optimale Variante. Auch wird es noch immer zeitig dunkel. Doch viel mehr Möglichkeiten haben schlüsselvergessende Jungen in seinem Alter nicht, jedenfalls nicht, wenn sie im Heinrich-Heine-Viertel in Mitte wohnen.
Sascha braucht nicht lange zu überlegen. Er geht zu „Ottokar“. Ottokar, der brave Schüler, Weltverbesserer oder Philosoph – Ottokar, die aus der DDR-Literatur bekannte, etwas andere sozialistische Persönlichkeit in Knabengestalt, grinst wie immer aus dem Logo des Kinderzentrums am Engeldamm. Der „Saal“ mit den großen Fenstern, das Kuschelzimmer, Billard und Tischtennis – alles noch da.
Sascha ist froh. Genaugenommen müßte der Klub für Sechs- bis Vierzehnjährige seit dem 1. Januar geschlossen sein. „Wir haben kein Geld mehr für die Miete“, konstatiert Sigrid Völker, zu der Sascha „Siggi“ sagt, weil niemand hier die gelernte Soziologin „Chefin“ oder „Sigrid“ nennen würde. Der freie Träger, die Kindervereinigung e.V., die die Miete für „Ottokar“ bislang aufbrachte, ist aufgrund von ABM-Kürzungen und dem Wegfall von Landeszuschüssen nicht mehr in der Lage, die mehr als 4.000 Mark für 204 Quadratmeter in dem Haus zu zahlen. Siggi will vom Dichtmachen des Kinderzentrums jedoch nichts hören. „Noch nicht und nicht, ohne bis zuletzt gekämpft zu haben“, fügt sie hinzu und erinnert daran, daß „Ottokar“ in den vergangenen Jahren schon so manche Schwierigkeiten überlebt hat.
Auch Oma Waltraud könnte den Verlust des Kinderzentrums nicht ertragen. Keine Woche, in der die mittlerweile 66jährige nicht im Klub vorbeischaut. Oma Waltraud lebt mit ihren beiden Enkeln zusammen. Als es mit dem Großen gar nicht mehr ging, schickte das Jugendamt den „sozial Gefährdeten“ zu „Ottokar“. Das Kinderzentrum war dann die erste Einrichtung, die den Jungen nicht gleich wieder rauswarf. Jetzt backt die Oma für die Kids und fährt mit ins „Ottokar“-Ferienlager. „Viele Kinder haben heutzutage keine Großmutter, die für sie Zeit hat“, weiß Sigrid Völker, „die genießen hier die Stunden mit Oma Waltraud.“
1991 waren dem ein Jahr zuvor durch Elterninitiative entstandenen Verein in Mitte noch fünf ABM-Stellen bewilligt worden. Mit einer Anschlußfinanzierung über Paragraph 249h Arbeitsförderungsgesetz konnten neben Sigrid Völkers Stelle lediglich zwei weitere gesichert werden, allerdings auch nur bis März dieses Jahres. Ob der Bezirk Mitte die Einrichtung anschließend über seinem Haushalt fördern kann, ist vollkommen offen. Die Noch-Jugendstadträtin Eva Mendl (PDS) fühlt sich in die Pflicht genommen, sagt sie. „Der Bezirk ist schon heute mit Jugendeinrichtungen weit unterversorgt. Weitere Schließungen können wir uns nicht leisten.“ Doch im Haushaltsplan sind Mittel für die Sicherung der freien Träger des Bezirks nicht enthalten.
Etwa eine Million Mark sind es, die den freien Trägern 1996 in Mitte fehlen. Vom Senat sei nicht viel zu erwarten, de facto muß der Bezirk entscheiden, ob er künftig das Geld für die Kinder- und Jugendeinrichtungen zur Verfügung stellt und dann eben eine Straße nicht instand setzt oder eine Grünfläche nicht neu anlegt, erläutert Eva Mendl. „Zu Lasten anderer Projekte im Jugendbereich wird eine Änderung der Prioritäten jedenfalls nicht erfolgen.“ Der Jugendhilfeausschuß des Bezirks will auf der Bezirksverordnetenversammlung, die nunmehr auf den 15. Februar verschoben wurde, einen Antrag einbringen, der den Weg für Veränderungen im Bezirkshaushalt frei macht.
Zu gern, so die Stadträtin, hätte man die im Personalbereich eingesparten Mittel des Jahres 1995 im Bezirk umgewidmet. Die Landeshaushaltsordnung schreibt jedoch vor, mit den Geldern erst einmal Pflichtaufgaben des Bezirks, wie die Zahlung von Sozialhilfe und Wohngeld, zu bewerkstelligen. Hier mußte immerhin ein Defizit von 13 Millionen Mark ausgeräumt werden. „Darüber hinaus eingesparte Mittel dürfen wir allerdings auch erst ab 1997 wieder abrufen.“ Für „Ottokar“ wäre das zu spät. Das Kinderzentrum kämpft bereits ums Überleben. „Wir wollen für jeden unserer 204 Quadratmeter Fläche zum monatlichen Spendenpreis von 22 Mark Paten gewinnen.“ Sigrids Sohn Thomas, der fast jeden Tag ins „Ottokar“ geht, beantragte bei seiner Mutter bereits die Erhöhung des wöchentlichen Taschengeldsatzes. „Er wollte für den Differenzbetrag auch Quadratmeterpate werden.“
Wer die Patenschaft für einen Quadratmeter Kinderzentrum übernehmen und im Monat dafür 22 Mark entbehren kann, der wende sich an das Kinderzentrum Ottokar, Engeldamm 68, 10179 Berlin, Tel./ Fax: 2754846
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