Taxigeschichte: Der Arzt verordnet Laufen
■ Die Präsidentenmutter will nach Reinickendorf. Das Erbe ist weg. Und in Plötzensee gibt's drei Gerichte zur Auswahl
Sonntagnachmittag, Busbahnhof. Die alte Dame nimmt sich ein Taxi. Ihr Alter ist schwer zu schätzen. Ende 70. Vielleicht 80. Vielleicht schon darüber. Sie will nach Reinickendorf, sagt sie. Und kaum ist ihr Koffer verstaut, kaum sitzt sie, fängt sie an zu erzählen:
Meine beiden Töchter sind selbständig und arbeiten bis sieben. Da müßte ich noch eine Stunde warten, bis die mich abholen könnten. Das wäre mir zuviel jetzt. Da leiste ich mir lieber ein Taxi. Immerhin bin ich schon seit sechs Stunden unterwegs. Und ich bin schwer krank. Bei der langen Busfahrt habe ich einen Herzanfall befürchtet ... bei der Hitze. Aber ich hab' immer alle Medikamente dabei, die ich brauche, für alle Fälle, Gott sei Dank.
Ich hab' es nicht leicht gehabt. Mein Mann ist im Krieg verstorben, und ich mußte die vier Kinder durchbringen. Eine meiner Töchter ist schwer kriegsbeschädigt: Ein Eisenträger hatte sich in ihren Rücken gebohrt, und sie hat nie einen Pfennig bekommen. Ich habe sie zu versorgen ... und hab' doch selbst die Nieren voller Steine. Die Kur hätte ich jetzt gar nicht machen können, wenn die Kinder das nicht bezahlt hätten. Bei der Rente.
29 Jahre hat mein Mann diesem Staat gedient. Beamter... Nazi war er nicht, nie in der Partei gewesen. Nur ganz wenige Beamte waren damals nicht in der NSDAP. Zum Kriegsende ist er gestorben. Und heute wird mir gesagt: Hätte er nach 45 wenigstens noch vier Wochen gearbeitet, dann würde ich jetzt 600 Mark mehr bekommen. Aber die Verwandten, die aus dem Osten gekommen sind, die kriegen 2.000 Mark. Ich bekomme 1.200. Und meine Erbschaft aus dem Osten ist auch weg. Sagen Sie, ist das Gerechtigkeit? Aber so was weiß ja niemand. 29 Jahre hat mein Mann diesem Staat gedient.
Mein Sohn ist früher auch mal Taxi gefahren, um sich was zuzuverdienen. Jetzt ist er Professor. Er hatte eine Lehre abgeschlossen und dann neben seiner Arbeit für das Abitur gelernt. Dann hat er studiert, war an der Sorbonne, wurde Professor und ist seit kurzem Präsident der Kunstakademie von Köln. Vor fünf Jahren hatte er einen Herzinfarkt, mit 50 Jahren. Nein, die haben es weiß Gott nicht leicht. Und mit seiner Frau hatte er auch so ein Unglück. Die liegt mit Krebs im Krankenhaus in Paris.
Meine Altersgenossinnen lachen über mich. Die sitzen sich den Hintern breit, sehen den ganzen Tag aus dem Fenster, quasseln und fressen sich fett für drei. Aber ich habe schließlich eine Tochter zu versorgen.
Ach, da ist ja die Haftanstalt Plötzensee. Da möchte man fast neidisch werden, wie die da leben. Und in dieser schönen Gegend. Die haben doch alles: zu essen ... drei verschiedene Gerichte sogar, die sie sich aussuchen können, Fernseher auf dem Zimmer und so weiter. Und da will doch dieser Rechtsanwalt Ströbele durchsetzen, daß die jetzt auch noch frei rumlaufen dürfen. Also, ich versteh' das nicht.
Wissen Sie, was mir der Arzt verordnet hat? Laufen. Zwei Stunden täglich spazierengehen. Können Sie mir den Koffer rauftragen? Ich bezahle Ihnen das. Sie sollen schließlich nichts umsonst tun. H.P. Daniels
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen