: A Noch ein Abschied von der Gutenberg-Galaxis
■ Porträt eines Schließungskandidaten: Zu Besuch in der Bücherhalle Kohlhöfen, die es wohl nicht mehr lange geben wird Von Dirk Knipphals
n höherer Literatur sind die vier Besucher, die die Bücherhalle Kohlhöfen gerade bevölkern, zugegebenermaßen nicht recht interessiert. Es sind türkische Jungen aus der Nachbarschaft, sie fläzen sich in einer Leseecke auf die Stühle und zeigen sich gegenseitig Bilder aus Comics vor. „Sonst sind sie nicht so artig“, sagt eine Bibliothekarin, und Ulrike Kohn, die Leiterin der Stadtteilbücherei, muß ein wenig lächeln. Das können die Jungen natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Sie legen die Comics weg, stehen auf und betreiben ihre Entdeckungsreisen durch die eine, die den Kindern und Jugendlichen zugeordnete Hälfte der 17.000 Medien wieder intensiver. Daß sie dies häufiger tun, ist ihrer Ungezwungenheit anzumerken. Was soll man auch machen in der nördlichen Neustadt, einem Stadtteil, deren ihn begrenzende Straßen – die Kaiser-Wilhelm-Straße, die Ludwig-Erhard-Straße, die Holstenstraße – fast genausoviel Fläche haben wie er selbst?
Medien, das meint Bücher, Comics, CDs und Videos. Von der reinen Gutenberg-Galaxis haben sich die Hamburger Öffentlichen Bücherhallen längst verabschiedet. Kohlhöfen hat einen Bestand von 17.000 Medien und ist damit in der internen Charakterisierung der HÖB eine kleine Stadtteilbibliothek. Große haben das Doppelte.
Wir gehen in den zweiten Raum der Bücherhalle Kohlhöfen. Er lädt ein zu einem historischen Exkurs. Ein Ort, an dem modernistisch klingende Ausdrücke wie „Medien“ etwas deplaziert erscheinen. Auch tobende Jugendliche wollen, so willkommen sie tatsächlich sind, in das Bild nicht recht hineinpassen. Eher schon ehrwürdige Herren mit Schnurrbart, die sich interessiert über Bücherseiten beugen. Oder herausgeputzte Arbeiter, deren leicht verkrampfte Haltung beim Lesen ein gelindes Unwohlsein, aber auch Stolz suggeriert. Daß sie überhaupt lesen, sich bilden können, das war lange Zeit alles andere als selbstverständlich. Nach Maßgabe einflußreicher Kreise, der Kirche und der Konservativen, sollten sie das Maul halten und schuften. Lesen sollten sie höchstens Erbauungsliteratur. Ein Gemeinplatz, aber man verfällt unwillkürlich auf solche schlichten Wahrheiten, wenn man sich in diesem zweiten Raum aufhält. Das Lesen, es hatte – und hat noch! – etwas mit Emanzipation zu tun. Vor allem an diesem Ort: Zwei von drei Benutzern der Bücherhalle Kohlhöfen waren in den dreißiger Jahren Arbeiter, in der Eppendorfer waren es nur 28 Prozent.
Bildungsbeflissene Männer und Frauen aus der ersten Jahrhunderthälfte sind auf den historischen Fotos zu sehen, die die Wände der Bücherhalle Kohlhöfen oberhalb der Bücherregale schmücken. Und der Raum, in dem sich diese Frauen und Männer befunden haben, als der Fotograf auf den Auslöser drückte, sieht genauso aus wie der Raum, in dem man sich beim Betrachten der Fotografien befindet. Es ist ja auch derselbe Raum. Dunkle Holzregale. Ein rundes Glasdach, direkt unter ihm eine runde Kartei, die aussieht, als sei sie aus dem Holz gemeißelt worden. Nur die Neonröhren bringen ein modernes Element hinzu. Und die Bücher natürlich, deren Rücken und Titel mit der dunklen Würde der Regale kontrastieren. Einer Würde, die kaum noch in das gegenwärtige kulturelle Klima Hamburgs zu passen scheint.
Bücherhallen, mit diesem Namen wollten in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Reformer um einen Herrn Constantin Nörrenberg, seinerseits Bibliothekar der Kieler Universitätsbibliothek, die neuzuschaffenden Bildungsinstitute gegen die überkommenen „Volksbibliotheken“ abgrenzen. Letztere seien, so Nörrenberg, zu Museen zur Sammlung „alter Scharteken“ verkommen, ihnen hafte ein geistiger Kellergeruch an. Also schritt man zur Tat. Es war sowieso Gründerzeit. Die erste Hamburger Bücherhalle, sie entstand hier, hier an der Straße Kohlhöfen. Das war am 2. Dezember 1899, einem Montag, treibende Kraft war die Patriotische Gesellschaft. Erst kürzlich ist die Bücherhalle für 300.000 Mark restauriert worden, die Fassade ist denkmalgeschützt.
Zurück in der Gegenwart. „Gerade war eine Schulklasse hier“, sagt Frau Kohn, die Leiterin, „grad bis vor einer halben Stunde.“ Sie möchte dem Eindruck entgegenwirken, es sei in ihrer Bücherhalle immer so ruhig, wie es das gegenwärtig ist. Nur eine ältere Dame und ein jüngerer Mann stöbern in den Regalen. Ein anderer Mann sitzt auf einem der Schemel und ist, ein Bein über das andere, Kinn in der Hand aufgestützt, in ein Buch vertieft.
Aber falsche Eindrücke braucht Frau Kohn nicht zu befürchten. Denn zum einen sind die Jungs aus dem anderen Raum längst nachgekommen und spielen am Bestellcomputer („Mein Freund ist gut“, brüstet sich der eine mit den Fähigkeiten des anderen, der seine Finger gerade über die Tastatur gleiten läßt, „er kann auch englisch tippen“). Und zum anderen sind die Erfolge von Hamburgs Öffentlichen Bücherhallen an Zahlen ablesbar.
Im vergangenen Jahr liehen sich Hamburgs Bürger insgesamt 9.666.403 Medien bei den Bücherhallen aus. Das bedeutet gegenüber dem Vorjahr eine Steigerung von 4,3 Prozent. Und auch Ulrike Kohn hat Leistungen vorzuweisen. Sie habe vor allem den Kinder- und Jugendbereich ausgebaut, mit den 10.000 Mark Investivkapital, die ihr jährlich zur Verfügung stehen. Mit der Schule in der Nachbarschaft bestehe eine enge Zusammenarbeit. Natürlich kämen auch viele Leute aus dem sozialen Brennpunkt Karolinenviertel hierher. Überhaupt sei ihre Klientel eine ganz andere als in der sich in der Nähe befindenden Zentralbibliothek in den Großen Bleichen.
Der eine türkische Jugendliche, der natürlich längst weiß, worum es geht, spricht für sie: „Schreib, daß die Bücherhalle nicht zugemacht werden darf“, sagt er, „es ist gut hier.“ Kohlhöfen steht bekanntlich auf der Liste von insgesamt acht Bücherhallen, die die neue Direktorin Birgit Dankert in der vergangenen Woche zur Schließung vorgeschlagen hat. Ulrike Kohn kommt gerade von der Vollversammlung, auf der Mitarbeiter der HÖB einstimmig einen Aufschub der Schließungspläne bis zum Herbst 1996 gefordert haben, um bis dahin in einer betrieblichen Fachdiskussion ein Zukunftskonzept erarbeiten zu können. Sehr optimistisch sieht sie nicht aus. Ihr Blick verschattet sich etwas, als sie sagt: „Wissen Sie, ich habe bei Frau Dankert gelernt.“ Bevor sie kürzlich Direktorin wurde, war Frau Dankert eine renommierte Professorin für Bibliothekswesen.
Von Kohlhöfen bis zu den Großen Bleichen sind es nur einige hundert Meter Luftlinie. Dieser Nähe zur dortigen Zentralbibliothek wird die Neustädter Bücherhalle zum Opfer fallen. Statt 54 wird es dem Plan zufolge vom 1. September dieses Jahres an nur noch 46 Bibliotheken in Hamburg geben. Eingespart werden die Büchereien, deren Besucher von möglichst nah gelegenen Bücherhallen aufgefangen werden können. So zumindest die Idee.
Vielleicht 500 Meter Luftlinie. Für Vögel und Erwachsene gar kein Problem. Für ältere Menschen stellt die stark befahrene Kreuzung am Axel-Springer-Platz schon ein größeres Hindernis dar. Und ob unsere vier Jugendlichen sich in der unübersichtlichen Zentralbibliothek genauso aufgehoben fühlen werden, ist die Frage. Oder die Klasse 5b der Gesamtschule Neustadt, die der taz rührend ungelenke Protestbriefe zukommen ließ. Etwa diesen: „Unsere Öffentliche Bücherhalle Kohlhöfen. Wir wollen alle das die Bücherhalle für immer und ewig bleibt. Ich heiße Hajina Bajanzai.“ Oder die ältere Dame, die die Bücherhalle mit den Worten betrat: „Es ist ein Skandal. Wo ist die Unterschriftenliste?“ Bislang haben sich mehr als 800 Menschen in die Liste eingetragen. Auch in den anderen bedrohten Bücherhallen regt sich der Protest.
„Natürlich ist es immer furchtbar, Bibliotheken zu schließen“, sagt Birgit Dankert. Ihr Büro liegt im dritten Stock eines Kontorhauses, zwei Eingänge von der Zentralbibliothek entfernt. Ein großer quadratischer Raum, an den Wänden lange Regale, die zur Zeit noch leer sind. „Sie werden sich bald füllen“, sagt die Direktorin der HÖB und harrt in der Sitzecke der Journalistenfragen. Sie ist erst seit dem 1. Januar dieses Jahres im Amt.
Birgit Dankert gilt auf dem Gebiet des Bibliothekwesens als Autorität. In der Medienarbeit ist sie auch nicht schlecht. Bis zum 27. Februar, dem Tag, an dem ihr Verwaltungsrat über ihre Vorschläge entscheiden wird, hat sie sich freundliche Bestimmtheit verordnet. Und so erläutert sie noch einmal, was sie bislang schon mindestens ein dutzendmal erläutert hat.
Da seien Altschulden, hinzu kämen kumulierende neue Defizite, alles in allem werde sich das bis zum Jahresende auf zwei Millionen belaufen. Da seien ihre Sparvorschläge zwar schrecklich, aber ein unumgänglicher Befreiungsschlag. 1,9 Millionen würden sie bringen. Was denn sei, wenn im kommenden Jahr der zweite Konsolidierungshaushalt greife, da seien doch wieder Millionenlöcher im Kulturetat zu stopfen? Das wisse sie nicht, das müsse man dann sehen. Ob sie auch gehört habe, daß Henning Voscherau nicht gerade als Liebhaber der Bücherhallen gelte? Das könne sie auf gar keinen Fall bestätigen, von der Kulturbehörde fühle sie sich jedenfalls gut betreut. Wie lange es dauere, bis sich die HÖB an die neuen, schwierigeren Begebenheiten angepaßt habe? Das sei ein langfristiger Prozeß, mit fünf Jahren müsse man da wohl rechnen. Ob sie den Begriff schlanke Bücherhallen akzeptieren könne? Ach, nein, Herr Knipphals . . .
Birgit Dankert wirkt unbedingt wie eine Frau, die weiß, was sie tut. Daß sie leichtfertig eine Bücherhalle opfert, erscheint abwegig, wenn man ihr begegnet ist. Aber sie hat ihre Vorgaben. Mit 48 Millionen Mark im Jahr unterstützt die Hamburger Kulturbehörde die HÖB. Das muß reichen. Aber es reicht nicht mehr. Mehr Geld könnte es nur durch politischen Druck von unten geben. In Eppendorf wurde bereits eine Bürgerinitiative gegründet. Wer weiß? Noch vor kurzem hat Kultursenatorin Christina Weiss, wie man hört, die Schließung von Bücherhallen für politisch nicht durchsetzbar gehalten.
1,9 Millionen Mark. Ihnen werden die Bücherhallen Mittelweg, Mundburg, Eppendorf, Berne, Hohenhorst, Tonndorf und Ob de Bünte zum Opfer fallen. Und die Bücherhalle Kohlhöfen, Hamburgs älteste, die erste Deutschlands, in der man frei, das heißt ohne Bibliothekar, seine Bücher aussuchen konnte, kurz bevor sie ihr hundertstes Jubiläum hätte feiern können.
Das Gebäude der zweitältesten Hamburger Bücherhalle kennt übrigens jeder, nur nicht mehr in dem Zusammenhang mit Bildungshunger. Es ist der Fritz-Schumacher-Bau am Mönckebergbrunnen. Er beherbergte bis 1971 eine Bücherhalle. Heute befindet sich darin ein Burger King.
In dem Gebäude Kohlhöfen möchte die Leitung der HÖB, bis der Mietvertrag im Jahre 2001 ausläuft, Schulungen für Mitarbeiter vornehmen. Was danach kommt, ist offen.
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