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Wieder konkrete Lebensziele entwickeln

■ Rund 2500 Drogensüchtige nehmen am bundesweit vorbildlichen Hamburger Entgiftungsmodell teil. Jetzt steht das Methadonprogramm vor dem Aus. Mit drei Substituierten sprach Patricia Faller

Als er 16 war, hatte Oliver Joints an den Weihnachtsbaum gehängt. Seine Eltern fanden die Dekoration nicht ganz so genial: „Mein Vater wäre fast ausgeflippt.“ Das war das erste Mal, daß sie mitbekamen, daß ihr Sohn kiffte, obwohl er es bereits seit vier Jahren tat. Mit 18 Jahren zog er nach Berlin, wo seine Karriere als Junkie begann. „Ich war mit den falschen Leuten zusammen“, lautet die einfache Erklärung des 24jährigen, der zu den 2500 Substituierten des Hamburger Methadonprogramms gehört. „Der Stoff war einfach immer da.“ Und wie alle hatte er geglaubt, seinen Konsum im Griff zu haben.

Durch Dealen finanzierte er das Zeug. Dabei wurde er schließlich erwischt und saß 14 Monate unter anderem in Santa Fu und in der offenen Haftanstalt Glasmoor. Während dieser Zeit wurde er schwer krank und mußte in die Klinik: Lungenembolie diagnostizierten die Ärzte. „Ich war kurz vorm Tod“, sagt er knapp. „Nach dem Krankenhausaufenthalt schob ich keinen Affen mehr“, erinnert er sich und blieb die übrige Haftzeit clean.

Nach seiner Entlassung wurde er rückfällig. „Ich hatte ein Zimmer auf der Reeperbahn und keine Arbeit. Außerdem traf ich mich wieder mit den alten Leuten.“ Als die Arme zerstochen waren, spritzte Oliver das Heroin in die Leisten. Noch zweimal kam er wegen Thrombosen ins Krankenhaus, bis ihn dort ein Sozialarbeiter einer Drogenberatung vom Kiez aufsuchte. Er half ihm, ins Methadonprogramm zu kommen. Im Oktober 1995 kam er in einer Wohngruppe für Substituierte der „Jugendhilfe e. V.“ mit psychosozialer Betreuung unter. Anfangs mußte er jeden Tag zur Drogenambulanz in der Max-Brauer-Allee, um das Methadon einzunehmen. Mittlerweile reicht ein wöchentlicher Arztbesuch. Dort bekommt er ein Rezept, um seine Ration zweimal pro Woche in der Apotheke abzuholen.

Seit er im Programm ist, geht es bergauf, hat er das Gefühl. Sein nächstes Ziel: den Realschulabschluß machen. Seiner Meinung nach hat das Methadon-Programm einen entscheidenden Vorteil gegenüber stationären Entzugstherapien: „Bei Therapien bist du ein Jahr lang weg, und dann kehrst du wieder in die Stadt zurück. Die Szene ist das Einzige, was du kennst. Ich kenne keinen, der clean geblieben ist.“

Deshalb kritisiert er die Krankenkassen, die sich dagegen sperren, daß das Methadon-Modell zur regulären Behandlungsmethode wird, auf die jeder Suchtkranke ein Recht hat. „Muß man sich jetzt erst infizieren, um Hilfe zu bekommen“, entlarvt er den Irrsinn der rigorosen Richtlinien (NUB-Richtlinien), die künftig für neue Substitutionswillige gelten sollen. Danach erhalten nur noch Schwerkranke mit Aids oder Krebs oder drogenabhängige Frauen während der Schwangerschaft und bis zu sechs Wochen nach der Geburt Methadon.

Allein schon die Vorstellung, ihr Leben in der jetzigen Phase ohne Methadon meistern zu müssen, macht auch der 27jährigen Martina Angst. „Für mich ist das Methadon lebenswichtig“, sagt die Mutter eines dreijährigen Sohnes. Sie hat in ihrer langen Drogenkarriere schon einige Suizidversuche hinter sich. Sie weiß, wovon sie redet. Die Probleme hören ja nicht auf, sechs Wochen nach der Geburt. Und was wird aus dem drogenabhängigen Partner?

Kurz vor der Entbindung fand Martina eine Wohnung. Der Vater des Kindes saß damals im Gefängnis wegen Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz. „Er behauptete immer, daß er clean geworden sei, was aber keineswegs stimmte, wie sich bei seiner Entlassung herausstellte.“ Sie forderte ihn auf, erst seine Sucht in den Griff zu bekommen, und blieb allein mit ihrem Sohn Marcel.

An die Nadel war sie mit 19 Jahren durch einen Freund gekommen. Die angehende Bürokauffrau litt damals unter schweren Depressionen und Angstzuständen, ausgelöst durch eine Vergewaltigung, die ein Jahr zurücklag. „Als ich dann Heroin genommen habe, konnte ich endlich wieder ruhig schlafen oder alleine einkaufen gehen. Heroin, das war–s. Bis ich irgendwann gemerkt habe, daß ich abhängig bin.“

Methadon bekam Martina, als sie schwanger wurde. Doch auch von der Ersatzdroge möchte sie irgendwann loskommen. Momentan aber hilft es ihr, ihren Alltag zu bewältigen. Ihrer Meinung nach sollte jeder die Chance bekommen, durch Me-thadon von der Nadel wegzukommen. „Mir hat es ja auch geholfen.“

Das sieht auch der 39jährige Bernd so. „Endlich nicht mehr so–n Streß um die Frage, wo bekomme ich den Stoff her“, erklärt er. Viel ausgeglichener fühle er sich jetzt. Durch die Substitution habe er wieder Zeit, sich neue Freunde zu suchen oder einen Job. Nächste Woche fängt er in einer Fachwerkstatt für Suchtmittelabhängige an. Mit 15 fing er mit Alkohol und Haschisch an, später nahm er LSD und Heroin. Eine „ganz normale Drogenkarriere“, wie er meint. In der Clique auf Parties zog man sich das Zeug rein, in der Clique beging man Ladendiebstähle und Autoaufbrüche, um Geld für Stoff zu beschaffen. Dreimal war Bernd für insgesamt zweieinhalb Jahre im Gefängnis.

Nach seiner letzten Haftentlassung aus der Anstalt II in Santa Fu im April 1992, beantragte er, ins Methadonprogramm aufgenommen zu werden. 40 ist für ihn eine magische Altersgrenze, die er nicht mit der Sucht überschreiten will – eine Art Wendepunkt, sagt er und fügt fast entschuldigend hinzu: „Das hört sich vielleicht etwas blöd an.“ Doch seit dieser Entscheidung, falle es ihm nicht mehr schwer, auf andere Drogen zu verzichten. Diesmal hat er auch das Gefühl, daß er es schaffen wird, sich von Heroin und Kokain loszusagen.

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