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■ NormalzeitGeschichte der O.

Dem Wirt der „Kogge“ in der Oranienstraße gehörte noch eine Kneipe mit einem ähnlich maritimen Namen im Wedding. Zwei solcher Bierschwemmen auf der Oranien- und der Müllerstraße: damit war er aus dem Schneider – dachte er lange Zeit. Aber erst starben all die verhinderten Seeleute in S.O. 36 mit der Zeit zügig weg, und dann wurden die in der „Kogge“ nachrückenden Landratten immer krimineller. Zuletzt verkehrten dort eigentlich nur noch einige jugoslawische und türkische Gangs, ein paar Fixer vom Kotti und die Wohnwagenleute vom Engelbecken.

Nach der Wende war, nicht ohne Hintergedanken, in der „Kogge“ ein gelernter, aber arbeitslos gewordener Kellner aus Pankow angestellt worden: Uwe. In den 80ern saß er – wg. Republikflucht – drei Jahre im Knast, und zwar gemeinerweise fast genau gegenüber seiner Pankower Wohnung, wo er dann auch wieder einzog – und bis heute wohnt.

Uwe erzählte mir einmal, nachdem die „Kogge“ wegen wiederholten Drogenhandels geschlossen worden und er in die Weddinger Filiale gewechselt war: „Da konnte man alles kriegen, jedes Rauschgift, jede Knarre, bis hin zur Kalaschnikow, auch Ausweise, Führerscheine, alles. Aber gefährlich wurde es nur, wenn jemand versucht hatte, einen anderen übers Ohr zu hauen: dann flogen die Fetzen. Ich hatte so eine grüne Blechkasse, die habe ich mir dann geschnappt und mich in den Keller verdrückt, hinter der Theke gab es eine Falltür, da bin ich runter, habe die Klappe hinter mir zugemacht und so lange gewartet, bis es oben ruhiger wurde, dann kam ich wieder hoch. Nicht einmal – in der ganzen Zeit – hat mich jemand von den Gästen angemacht oder betrogen. Besonders mit den Wohnwagenleuten vom Engelbecken kam ich gut klar: die sahen meist zerlumpt und verdreckt aus, aber ich bin von ihnen nie beschissen worden. Die hatten alle irre Deckel in der Kneipe, wenn sie jedoch ihr Geld vom Sozialamt kriegten, haben sie prompt ihre ganzen Schulden bezahlt.“

Das Irre an dieser Geschichte bestand für mich noch aus etwas anderem: Uwe kannte bis zu seinem Job in der „Kogge“ Kreuzberg und die Oranienstraße nur aus dem Fernsehen. Obwohl er kräftig gebaut ist, war er etwas ängstlich, als er das erste Mal dort hinging, um sich vorzustellen. Trotz seiner guten Erfahrungen mit den Stammgästen vergaß er dort jedoch nie seinen eher allgemeinen Fernseh-Horror: Fortan hatte er vor allem Angst vor dem Heimweg – morgens allein durch die Oranienstraße: „Da habe ich immer gemacht, daß ich so schnell wie möglich zur U-Bahn kam – und weg!“

Unsereiner, der eher Angst hatte, in der „Kogge“ allein ein Bier zu trinken als auf der „Oranien“ spazierenzugehen, verstand das nicht sogleich: Uwe war tatsächlich der Meinung, daß er mit Glück gerade noch die angenehmste Oranienstraßen-Kundschaft in seiner Kneipe bedient hatte, alle anderen waren für ihn jedoch mehr oder weniger wirklich gefährliche Leute. Noch heute ist er dieser Meinung. Was für ein wunderbarer Irrtum! Den er im übrigen bis heute nicht korrigiert hat. Die zweite Maritim- Kneipe im Wedding machte, nebenbei bemerkt, ein Jahr später auch dicht bzw. wechselte den Besitzer, sie heißt jetzt „Black and White-Bar“ oder so ähnlich. Selbst die „Ankerklause“ am Kottbusser Damm ist so gut wie erledigt: der frühere Stammgast Kapielski hörte neulich, ausgerechnet in einem Münchner Biergarten, ein Gespräch zweier Handy-Schnösel am Nebentisch – sie unterhielten sich über diese jetzt so wahnsinnig angesagte Ankerklause in Kreuzberg, und der eine meinte: „Echt irre, bis vor kurzem haben da nur Penner verkehrt!“ Helmut Höge

wird fortgesetzt

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