: So gediegen. An so einem Ort.
■ Leben unter der Stern-Brücke: Arie und Kohlgarten, Antiklimax und Tattoos, 900 Züge und 41.000 Autos, Jägermeister-Wandteller und ein Phantom am trostlosen Horizont Von Ulrike Winkelmann
Wenn Güterzüge über seinen Kopf hinwegwalzen, fallen bei Young Ju Kim die Tabaks-Päckchen vom Regal. Er weist zur Decke: „Das kommt von oben.“ Seit dreieinhalb Jahren führt er den Kiosk unter der Sternbrücke. Während siebenjährige Kinder auf dem Heimweg von der Schule bei ihm ihr Yps-mit-Gimmick und rosa Bambi-Sticker erstehen, erzählt er, wie der Vorbesitzer des Kiosks ihn vor drei Jahren betuppt hat, als er ihm wertlosen Ramsch hinterließ und dafür viel zu viel Abstand verlangte.
Von halb sechs morgens bis sechs Uhr abends steht Young Ju Kim hinterm Tresen, und danach muß er noch einkaufen. „Meine Frau wollte helfen, aber sie wurde krank, und immer aus Norderstedt hierher, das ist zuviel.“ Die Versorgungslage hier ist mies. Zuerst hat er immer sein Zuckergummizeug, vielfarbige Würmer, die sich in durchsichtigen Plastiktönnchen vor ihm aufstapeln, gegessen, dann Currywurst nebenan – heiß und fettig. Aber demnächst zieht direkt neben ihm, auch ins Brückengewölbe, ein Ost-Asien-Imbiß ein. Die Geschäfte gehen schlecht: „Die Leute mit Geld ziehen hier weg, die armen Leute kaufen nur Kaugummi und Zigaretten, und die alten Leute sterben.“
Täglich 500 S-Bahnen lassen unter der Sternbrücke die Wände erzittern, zusätzlich rauschen 325 Fern- und 57 Güterzüge im Halbmeter-Abstand an den Küchenfenstern im 2. Stock der pastelligen Altbauten vorbei. Das Schienenstück zwischen den IC-Bahnhöfen Dammtor und Altona ist eines der meistbefahrensten in Hamburg, weiß das Unternehmen Zukunft zu berichten. 102 Jahre alt sind die Gewölbe und die Widerlager, die die Schwingungen abfangen sollen; die stählernen Überbauten obendrauf sind von 1925.
Ein Schmuckstück ist die Sternbrücke nicht – den letzten Anstrich hat sie vor zwanzig Jahren bekommen. Ein Blick von hier in die Stresemannstraße, im Volksmund gerne „Strese“ genannt, relativiert den ästhetischen Eindruck: Die Brücke ist nur gammelig, die Strese dagegen trostlos bis zum Horizont, wo das „Phantom der Oper“-Musicalhaus über die Straße ragt. Aber wer achtet schon auf Äußerlichkeiten.
Im Tattoo-Laden gegenüber von Young Ju Kim läßt sich ein Jüngling einen geflügelten Werwolf auf die Brust schnitzen. Tut angeblich nicht weh, jedenfalls kaum. An der Wand hängen Schnappschüsse von Leuten mit zusammengebissenen Zähnen, bangemachender als die Totenschädel-Fresken, die sie sich unter die Haut spritzen lassen.
Ralf, dem ein Röschen auf der Glatze und hübsche Blumenwiesen-Stulpen auf den Unterarmen wachsen, bietet eine Trockenübung ohne Farbe an, „nur damit du siehst, wie sich das anfühlt.“ Die Ecke mit Aussicht auf das verrußte Backstein-Brückenfundament findet er „klasse“. Auf den Kiez zu den anderen Tattoo-Läden wollte er nicht: „Das sind alles Abzocker in St. Pauli, wenn du da nicht mitziehst, kriegst du Ärger.“
41.000 Vehikel rollen täglich unter der Sternbrücke durch: 19.000 auf der Max-Brauer-Allee und 22.000 auf der Stresemannstraße. Der Schnittpunkt der Szenequartiere Schanzenviertel und Altona Nord ist die Kreuzung: ein Stinkfleck, eine Antiklimax, der Haßpunkt der ringsum ansässigen GrünwählerInnen.
Vor allem für die Fahrradfahrenden unter ihnen. Sie postieren sich gerne ein paar Meter vor den an der Ampel in Habachtstellung verharrenden Wagen. Bei „grün“ haben sie dann genügend Vorsprung, um unbeschadet den rettenden Rad-Fußweg auf der anderen Seite zu erreichen, ohne von der jagenden Meute am Brückenpfeiler inmitten der Kreuzung abgestreift worden zu sein. Die Polizeipressestelle kennt die genauen Unfallzahlen nicht, die Umweltbehörde weiß nicht, wie hoch die Schadstoffkonzentrationen unter der Brücke sind. Beiden scheint beides auch gar nicht so wichtig zu sein.
Wer im Schatten eines Dreißig-Tonners vor dem Zebrastreifen wartet, dem stellen sich tatsächlich auch viel naheliegendere Fragen: Warum stehen seit Menschengedenken auf allen ohnehin schmal bemessenen Bürgersteigen rings um die Brücke Bauabsperrungen? Warum hat man an den hochgerissenen Pflastersteinen noch nie Arbeiter gesehen? Und vor allem: Wem zum Teufel gehört der Gemüsegarten direkt neben der Brücke? Starr und stumm wie stehende Mumien reihen sich hier ins Kraut geschossene Kohlrabis – oder sind es doch Grünkohlstengel? – aneinander: Wo kommen sie her, wo gehen sie hin?
„Grandios, bella, fantastico, großartig!“ Die Frau in dem Blumenladen produziert ihr italienisches Temperament. Ihre großspurige Launigkeit wirkt ein bißchen marottenhaft und aufgesetzt wie ein Kapotthütchen, und die moralinsaure-bedauernde Frage aus der muffelnden Müsli-Ecke 'Blumen-und-Autos-verträgt-sich-das?' kann sie nicht mehr hören.
Eine schönere Gegend für einen Blumenladen kann sie sich überhaupt nicht vorstellen: „Wer keine Autos will, soll doch aufs Land ziehen.“ Seit sechzehn Jahren, bella, verkauft sie Blumen und singt Opern-Arien dabei, „seitdem ich die Thermopen-Scheiben drin habe, ist es schon viel zu still geworden, aufreißen möchte ich sie, den Kopf in den Lärm halten!“
Dem etwas zögerlichen Herrn dreht sie eine edle – und für ihre Zugempfindlichkeit berüchtigte – Calla im Topf an („Ach was pflegeleicht, alles ist pflegeleicht, auch wir sind pflegeleicht“) und schubsiert ihn wieder auf die Max-Brauer-Allee.
Gegenüber hat der Floh- und Antiquitätenmarkt Küchen-, Korb- und Kinderstühle mit überdimensionierten, dafür aber selbstgemalten Preisschildern an den Straßenrand gestellt, als wenn Platz zu nehmen sei im anheimelnden Ampelstau, mit Aussicht auf den Imbiß („Hier gibt's alles – Schweinefleisch“). Zu Stoßzeiten stockt der Auto- und LKW-Verkehr gerne mitten auf der Kreuzung; die Blechkette zieht sich dann quer über die Fußgängerüberwege auf der Strese, Menschen mit Kinderwagen haben minutenlang keine Chance, die Straße zu queren.
Der Grund hierfür sei nicht etwa die Ampelschaltung, meint die Polizei, sondern die Verengung der Strese auf eine einspurige Tempo-30-Zone plus Busspur. Diese Verkehrsberuhigung auf Hamburgs befahrenster Bundesstraße hatte im Herbst 1991 die „Strese-Ini“ durchgesetzt, nachdem die neunjährige Nicola auf der Trasse, die direkt von der Autobahn in Hamburgs Innenstadt führt, von einem LKW überrollt worden war.
Noch immer machen die Laster zwölf Prozent des Verkehrs auf der Strese aus, der aber insgesamt laut Baubehörde zwischen 1990 und 1993 um fast fünfzig Prozent zurückgegangen ist. Im neuen Hamburger Verkehrsentwicklungskonzept wird die Verengung jedoch wieder zur Debatte gestellt: „Der Flaschenhals muß weg“, forderte Bausenator „Beton-Eugen“ Wagner schon vor Jahren.
Zeit für einen Kaffee an einem Ort des friedlichen Miteinanders, drüben in der Astra-Stube, mit einem „Ein-Herz-für-Deutschland“-Aufkleber über dem Jägermeister-Wandteller hinterm Tresen. Verblüffend, wieviele Eichen-Sitz-Ensembles auf fünfzehn Quadratmeter passen. Wirtin Hella Müller zupft alle fünf Minuten vorm Spiegel ihre toupierte Platin-Dauerwelle ins Gesicht hinein.
Zusammen schauen wir uns den Quelle-Katalog an; die Patchwork-Lederjacken gefallen ihr am besten, sind auch im Sonderangebot, aber bei Karstadt ist ja jetzt auch Winterschlußverkauf. Schon neun Jahre liefert sich Hella ironische Schlammschlachten mit ihren Stammgästen. Es gibt nur Stammgäste in der Astra-Stube, und alle heißen Peter oder Werner, kurz: Schätzchen.
Seit ihrem Oberschenkelhalsbruch vor fünf Monaten – „hier im Laden, aber nüchtern“ – hinkt sie und nimmt Tabletten, die sie schlappmachen. „Als die Ärztin hier reinkam, hat sie gesagt, 'das sieht ja von außen aus wie eine Räuberhöhle'.“
Ganz überrascht sei die gewesen, wie „gediegen“ eine Kneipe sein kann. An so einem Ort.
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