piwik no script img

„Der Papagei, der in den Ventilator flog“

■ Nach stundenlangen Schaukämpfen hieß die Devise der gestrigen Bundestagsdebatte plötzlich: Ohne Zusammenarbeit ist das Wirtschafts- und Sozialsystem nicht zu retten

Bonn (taz) – Der Mann, den die Opposition im Bundestag als Hauptverantwortlichen seit Wochen hatte stellen wollen, verblüffte gestern nicht nur SPD-Chef Oskar Lafontaine: Nach fast fünfstündiger Redeschlacht im Bundestag unterbreitete Bundeskanzler Helmut Kohl der sozialdemokratischen Opposition ein vages Angebot zur Teilnahme am Bündnis für Arbeit.

„Jeder, der in dieser Gesellschaft Verantwortung hat, soll auch in einer mißlichen Situation seine Verantwortung übernehmen und sich fragen, was er tun kann“, sinnierte der Kanzler und bat um Vorschläge der SPD. Mit den Worten „Ich lade Sie ein, dabei mitzumachen“ ignorierte Kohl souverän alle zuvor auf das Bündnis eingeprasselte Kritik.

Lafontaine, der zum erstenmal seit seiner Wahl zum SPD-Chef im Bundestag auf Kohl traf, sah sich genötigt, vom vorbereiteten Redetext abzuweichen und wenigstens den neuen, versöhnlichen Tonfall des Kanzlers zu loben. Auch die Einladung zur Zusammenarbeit konnte der saarländische Ministerpräsident nicht gänzlich ausschlagen.

Am Aktionsprogramm selbst aber ließ der saarländische Ministerpräsident kein gutes Haar. Es sei „eine Mogelpackung – von hinten bis vorne so unseriös, daß man es Ihnen um die Ohren schlagen sollte“. Antworten schuldig bleibe die Regierung vor allem auf die Frage, wie sie die viel zu hohen Lohnnebenkosten senken wolle. Auch die viel zu hohe Zahl der in Deutschland geleisteten Überstunden sei ein Skandal. Den notwendigen ökologischen Umbau schließlich verweigere die Regierung gänzlich.

Erst pauschale Schuldzuweisungen, schließlich Wettbewerb der Konsenssucher – so lautete gestern die seltsame Dramaturgie der Debatte. Die SPD fand sich dabei wieder in der mißlichen Lage, daß die Koalition ihr ständig die Bereitschaft der Gewerkschaften zur Zusammenarbeit vorhalten konnte. So aussichtslos könne das Bündnis für Arbeit doch nicht sein, wenn auch der DGB Verantwortung übernehme.

Die Opposition bestritt nicht die Notwendigkeit des Sparens, sondern beklagte die soziale Ungerechtigkeit der regierungseigenen Spar- und Steuerpläne. Es sei ein schlimmer Irrtum, daß die Wirtschaft durch das Ruinieren des Sozialstaats vorangebracht werden könne, warnte SPD-Fraktionschef Rudolf Scharping.

Für den Widerspruch zwischen vollmundigen Regierungshymnen auf die eigenen Großtaten und der gleichzeitigen Hilflosigkeit gegenüber dramatischen sozialen Entwicklungen hatte Schleswig-Holsteins Ministerpräsidentin Heide Simonis (SPD) zuvor schon eine Formel gefunden: „Alles bewegt sich, sagte der Papagei, der in den Ventilator flog.“ Hans Monath

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen