: Es herrscht Ruhe im Land
■ Vier Millionen arbeitslos – doch jeder kämpft für sich
Die Frage, ob sich die bundesdeutsche Gesellschaft an mehr als vier Millionen Arbeitslose gewöhnen kann, ist einfach zu beantworten: Sie kann. Der Osten Deutschlands hat es vorgemacht, in einer Art unfreiwilligem Großversuch. In den Dörfern und Städten hocken arbeitswillige Frauen untätig zu Hause, verschrotten ABMler die Reste ihrer alten Betriebe. Sozialer Friede in Gefahr? I wo! Wer nicht so genau hinsieht, kann die Apathie leicht mit Frieden verwechseln. Gefahr wäre da sogar mal eine Abwechslung. Genauso kann es im Westen auch kommen: Die Arbeitslosigkeit nimmt zu – und wird gleichzeitig zunehmend zum Einzelschicksal gemacht. Stillschweigend.
Vorbei die Diskussion im Stile von „Der Staat müßte, die Arbeitsämter sollten mal ...“, die in den 70er Jahren die Medien bewegten, als es im Westen nicht mal halb so viele Arbeitslose gab wie heute. Der Staat will oder kann nicht mehr, der zweite Arbeitsmarkt mit ABM-Stellen und Weiterbildungskursen wird eingedampft.
Sicher, da ist jetzt die heimliche Lust am Arbeitslosezählen, der heimliche Schauder. Vier Millionen! Da müßte doch mal was passieren. Ein Streik! Bloß wer gegen wen? Eine Klasse der Arbeitslosen gibt es nicht. Und das System der Marktwirtschaft hat niemals versprochen, allen Leuten eine Beschäftigung zu verschaffen. Im Gegenteil: Gerade weil die Konzerne Stellen abbauen, machen sie jetzt wieder Gewinne.
Deswegen haben es kollektive Lösungen schwer, vor allem wenn sie planwirtschaftliche Elemente aufgreifen. Der erste „Bündnis für Arbeit“-Vorschlag von IG-Metall-Chef Klaus Zwickel forderte verbindlich mehr Jobs und versprach im Gegenzug geringere Lohnforderungen. Zu dirigistisch. Die Idee wurde auf die Betriebe heruntergekürzt: weniger Überstundenzuschläge und dafür dann – hoffentlich – neue Stellen. Es werden wohl nur wenige sein.
Der Glaube, daß es auf den einzelnen ankommt, wird jetzt von Blüm wieder unterstrichen: Arbeitslose sollen künftig selbst nachweisen, daß sie sich aktiv um einen Job bemühen. Die Verbreitung dieses Individualismus unterscheidet die Lage heute von der Massenarbeitslosigkeit in der Weimarer Zeit. Was ja auch sein Gutes hat.
„Bündnisse“ sind in der Konkurrenzgesellschaft nur dort möglich, wo allen Beteiligten das Wasser bis zum Hals steht, wenn überhaupt. Es bleibt eine interessante Frage, warum das VW-Modell bis heute keine Nachahmer fand. Barbara Dribbusch
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen