: Die Moral vor den Dollar stellen
Mit einem Video über Frauendiskriminierung im Sport will das Komitee „Atlanta plus“ die Olympiasponsoren für seine Kampagne gegen die Olympiateilnahme von frauenlosen Teams gewinnen ■ Von Matti Lieske
Als vor hundert Jahren in Athen die ersten Olympischen Spiele der Neuzeit stattfanden, nahmen daran 295 Männer teil. Frauen waren nicht zugelassen. Schon gar nicht beim Höhepunkt der Spiele, dem Marathonlauf. Stamathia Roviti, eine 35jährige Mutter von sieben Kindern, war über diese Diskriminierung empört und protestierte auf ihre Weise gegen den Ausschluß der Frauen von den olympischen Weihen: Am 11. April 1896 ließ sie sich morgens um 8 Uhr von Bürgern in Marathon auf einem Zettel ihren Start bescheinigen, fünfeinhalb Stunden später von zwei Polizisten ihre Ankunft in Athen. Stamathia Roviti wurde zwar nicht so berühmt wie der griechische Marathonsieger von 1896, Spiridon Louis, aber ihre spektakuläre Tat sprach sich herum, und sie ging als erste neuzeitliche Kämpferin für die Rechte der Frauen in die olympische Geschichte ein.
Ende März will das Komitee „Atlanta plus“ eine Veranstaltung zu Ehren von Stamathia Roviti abhalten, denn das Anliegen der Griechin ist nach wie vor aktuell. Zwar waren schon 1900 in Paris elf Frauen bei Olympia am Start und 1992 in Barcelona stolze 2.708, doch der Schein trügt. Die Überzahl der Männer war in Katalonien immer noch gewaltig (6.659), und 34 Nationen waren ganz ohne Frauen angereist. Die iranische Delegation hatte es sogar abgelehnt, bei der Eröffnungsfeier eine Fahnenträgerin zu akzeptieren und ultimativ gefordert, diese durch einen Mann zu ersetzen. Ein Verlangen, dem tatsächlich entsprochen wurde.
„Als wir das sahen, waren wir perplex“, erinnert sich die Pariser Anwältin Linda Weil-Curiel, die sich aber ebenso wie Stamathia Roviti nicht mit bloßer moralischer Empörung aufhielt, sondern im Januar 1995 gemeinsam mit der Atomphysikerin Annie Sugier und der belgischen Parlamentsabgeordneten Anne-Marie Lizin das Komitee „Atlanta plus“ gründete. Das Ziel der Organisation ist simpel: das Internationale Olympische Komitee (IOC) dazu zu veranlassen, seiner eigenen Olympischen Charta Geltung zu verschaffen.
„Alle Formen der Diskriminierung mit Bezug auf ein Land oder eine Person, sei es aus Gründen von Rasse, Religion, Politik, Geschlecht oder aus sonstigen Motiven, sind mit der Olympischen Bewegung unvereinbar“, heißt es dort. Und eine „Diskriminierung aus Gründen von Geschlecht“, sei bei den meisten der frauenlosen Teams eindeutig gegeben. Dabei ist dem Komitee, so Anne-Marie Lizin, klar, daß es Unterschiede gibt zwischen finanzschwachen Ländern wie Tonga (5 Sportler), Cook Inseln (2) oder Burkina Faso (4), die nur sehr kleine – männliche – Delegationen nach Barcelona schickten, und Staaten wie Katar (31), Kuwait (36), Uruguay (23), Iran (40) oder Pakistan (27). Grundsätzlich ist Atlanta plus aber nicht bereit, Entschuldigungen gelten zu lassen. „Die Gründe, welche für diese Diskriminierung vorgegeben werden, sind unakzeptabel, egal, ob es sich um den ausdrücklichen Wunsch einiger Länder handelt, Frauen auszuschließen, oder um fehlende finanzielle Mittel, mit denen erklärt wird, warum männliche Sportler bevorzugt werden“, heißt es in der Satzung des Komitees.
„Der Kampf ist neu und er wird hart werden“, ahnte Anne-Marie Lizin bei Gründung von Atlanta plus voraus, und sie sollte Recht behalten. Sehr schnell bekam das Komitee Unterstützung von prominenten Sportlerinnen und Sportlern wie Carole Merle (Ski), Richard Virenque (Radsport), Daniel Bravo, Luis Fernandes (Fußball) oder Joäl Quiniou (Fußball- Schiedsrichter), später erklärten sich auch internationale Stars wie Martina Navratilova und Nawal El Moutawakel solidarisch. Die Marokkanerin wurde 1984 in Los Angeles über 400 m Hürden erste afrikanische Olympiasiegerin und sagt heute: „Die Ausübung des Frauensports zu verstecken, ist der beste Weg, ihn zu vernichten.“ Auch Hunderte von moslemischen Frauen schlossen sich inzwischen der Atlanta-plus-Bewegung an.
Unterstützung erhielt das Komitee von vielen Sportorganisationen, unter anderem dem Deutschen Sportbund (DSB), vom UNO-Hochkommissar für Menschenrechte sowie von Politikerinnen und Politikern aus aller Welt. Der französische Staatspräsident Chirac wies seinen Außenminister an, bei der Unesco vorstellig zu werden, und der CDU-Politiker Heiner Geißler verlangte in einem Interview, die betreffenden Länder von Olympia auszuschließen. Diese Forderung richtete zu Wochenbeginn auch die Frauengruppe der CDU an das IOC.
Bei den vielen Herren und wenigen Damen des Olymps stieß die Initiative von Atlanta plus jedoch auf weitgehend taube Ohren. Sie reagierten, wie es zu erwarten war. Verschleppen. Abschmettern. Wieder Verschleppen. Auf die ersten Briefe von Atlanta plus kam überhaupt keine Antwort. Dann wurde der Erhalt eines Schreibens bestätigt, doch leider würde der Präsident soviel Post bekommen, daß er noch keine Zeit gehabt habe, sich darum zu kümmern. Schließlich erklärte IOC-Sprecherin Michèle Verdier knapp, daß das IOC natürlich die Olympische Charta hochhalten werde, die Teilnahme von Frauen aber nicht in den Händen des IOC, sondern denen der nationalen Verbände liege. Das ist zwar richtig, aber in der Olympischen Charta sind für den Fall ihrer Mißachtung eindeutige Strafen vorgesehen: „Das IOC kann ein NOK suspendieren oder ihm die Akkreditierung entziehen.“ Auf dieser Grundlage wurde Südafrika 1964 bis 1988 von den Olympischen Spielen ausgeschlossen. „Die Apartheid der Geschlechter muß mit derselben Entschlossenheit bekämpft werden wie die rassistische Apartheid“, fordert Atlanta plus.
Im Januar 1995 wurde das Problem von der IOC-Exekutive unter Leitung von Präsident Samaranch erörtert. „Wir haben nur sehr kurz über das Thema gesprochen“, tat IOC-Generaldirektor François Carrard anschließend gewohnt arrogant kund, „wir betrachten den Brief als rein politischen Angriff gegen eine Religion und halten ihn deshalb für erledigt.“ Dennoch tauchte das ungeliebte Thema auch im Sommer bei der IOC-Vollversammlung in Budapest auf der Tagesordnung auf, wurde aber nicht behandelt, weil die ganze Zeit für die Erhöhung der Altersgrenze für IOC-Mitglieder auf 80 Jahre draufging.
„Der Fundamentalismus ist ein rein politischer Angriff auf eine Religion, die dazu mißbraucht wird, Frauen systematisch zu unterdrücken“, hält Linda Weil-Curiel den Äußerungen Carrards entgegen und verweist auf das Gutachten eines der wichtigsten islamischen Zentren in Kairo, in dem es heißt, daß nichts im Koran „die Verletzung der Rechte von Frauen und Kindern“ rechtfertige. Außerdem verwahrt sich Atlanta plus dagegen, daß seine Kampagne sich ausschließlich gegen islamische Länder richte, wiewohl natürlich Staaten wie Iran, Saudi-Arabien, Katar, Arabische Emirate, Pakistan oder Kuwait die Hauptverdächtigen im Fall sportlicher Frauendiskriminierung sind.
In Saudi-Arabien ist es Frauen und Mädchen verboten, öffentlich Sport zu treiben, die private Ausübung ist praktisch unmöglich, und selbst private Sportklubs von Ausländerinnen werden immer wieder geschlossen. Im Iran ist Frauen- und Männersport streng getrennt, Männer sind auch als Zuschauer nicht zugelassen. Die Frauen dürfen nur – in islamischer Kleidung – Schach, Volleyball, Basketball, Schwimmen, Schießen, Skifahren, Reiten oder Tischtennis betreiben. Bei Verstoß gegen Sportgebote oder Kleiderordnung drohen Strafen wie z.B. Auspeitschungen. An internationalen Wettkämpfen dürfen iranische Frauen nicht teilnehmen, außer an den von der Regierung geförderten muslimischen Frauen-Spielen, die 1997 – mit IOC-Unterstützung – in Pakistan stattfinden sollen. Dort nämlich seien die Frauen „vor der Korruption geschützt, die aus der gleichzeitigen Präsenz von weiblichen und männlichen Sportlern am selben Ort resultiert“ (Irans Präsident Haschemi Rafsandschani). In den Augen von Atlanta plus handelt es sich um reine Apartheid- Spiele, welche die Ausgrenzung der Frauen legitimieren sollen.
Etwas anders liegt der Fall in den Ländern, deren Regierungen den Frauensport tolerieren oder fördern, in denen die sporttreibenden Frauen jedoch den Angriffen von Fundamentalisten ausgesetzt sind. Berühmtestes Beispiel ist die algerische Olympiasiegerin und Weltmeisterin über 1.500 Meter, Hassiba Boulmerka, die beim Training in ihrem Heimatland häufig beschimpft und sogar tätlich angegriffen wurde.
In den Monaten vor den Olympischen Spielen in Atlanta will das Komitee seine Aktivitäten weiter verstärken und sein Augenmerk besonders auf die Sponsoren richten. „Firmen wie Coca-Cola werden Einbußen erleiden, wenn sie den Dollar vor die Moral stellen“, ist Linda Weil-Curie sicher. Ein eigens produziertes Video soll die Unternehmen über die Kampagne aufklären und allgemein für Publizität sorgen. Spätestens, wenn es an den Geldbeutel geht, wird auch das IOC Atlanta plus kaum noch wie bisher ignorieren können, zumal die Olympier schlechte Erfahrungen mit der Antidiskriminierungsbewegung in den USA haben. Vor den Spielen 1984 in Los Angeles klagte eine Frauengruppe gegen den Internationalen Leichtathletikverband (IAAF), weil es keinen 10.000-Meter-Lauf für Frauen gab. Am Ende gewann die IAAF zwar, mußte aber 92.000 Dollar Anwaltskosten zahlen. Das 10.000-Meter-Rennen ist seit 1988 im olympischen Programm.
Dennoch: Der Lauf, den Stamathia Roviti 1896 in Marathon begann, hat sein Ziel noch längst nicht erreicht.
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