: „Krank“ – „Ja, krank“
Immer wird's schlimmer: In Händen vergrabene Gesichter, feuchte Augen, mahlende Kieferknochen – In „Stille Nacht“ (Wettbewerb) zeigt sich Dani Levy als gnadenloser Moralist ■ Von Thomas Winkler
Die Gesichter der beiden Männer bleiben lange Zeit verborgen. Das eine wird vom diffusen Licht eines Pariser Hotels verschluckt, das andere will hinter einer Weihnachtsmannmaske nicht hervorkommen. Trotzdem erfahren wir genug über die beiden, bevor wir sie zum ersten Mal sehen. Der eine flieht gerade aus einer Beziehung, um sie mit Lügen zu retten. Der andere ist ein Liebhaber, der mehr will, als er bisher bekommen konnte. Spießer vs. Sponti, Partner vs. Ficker, Rollkragenpullover vs. Goldkettchen. Die Gesichter schließlich bestätigen die Prototypen: Die hohe Stirn unter den weichen Zügen von Christian (Mark Schlichter) tritt an gegen markante Wangenknochen unter dem Strubbelhaar von Frank (Jürgen Vogel).
Dani Levy inszeniert einen Boxkampf ohne direkte Schlagabtausche. Finten, Niederschläge, Anzählen, und dann wird die neue Runde eingeläutet. Gleichzeitig Sandsack und Preis ist Julia (Maria Schrader). „Ich möchte glücklich sein“, sagt sie. „Aber ich mach' alles kaputt.“ Zum Beweis drückt sie eine Zigarette auf ihrem Arm aus. Am Telefon sucht sie mit Christian verlorengegangene Gemeinsamkeiten. Von Angesicht zu Angesicht mit Frank wehrt sie sich gegen neue. Als bildliche Entsprechung für die Sprachlosigkeit seiner Figuren läßt Levy die drei ständig miteinander telefonieren und Faxe von Berlin nach Paris schicken. Wenn ein Gespräch entsteht, piepst ein Telefon oder ein Wecker. Oder einer der Telefonierenden kappt die Leitung. „Krank“, stellt Julia fest. „Ja, krank“, antwortet Christian.
Doch so ganz vertraut Levy seiner Dreierkonstellation, seinen Dialogen und der visuellen Tragfähigkeit des Telefonierens nicht. Darum schickt er Christian in Klamotten unter die Dusche oder gleich wieder hinaus in den Pariser Regen, in eine Bar, in der Ingrid Caven mit rauchiger Stimme singt. Julia und Frank indes müssen sich aus der Wohnung aussperren, damit die Kamera um sie herumfahren kann, während sie sich im Schneetreiben küssen.
Es bleibt trotzdem immer schmerzhaft mit anzusehen, don't try this at home. Ein böses Lehrstück, auf der vergeblichen Suche nach dem Guten im Menschen. Nach seinen bisherigen, immer leicht zynischen Komödien gibt sich Levy als beinharter Moralist zu erkennen. Zwar zeigt er die vertrauten Bilder: in Händen vergrabene Gesichter, feuchte Augen, mahlende Kieferknochen. Aber anstatt irgendwelche Sympathien für seine Figuren zuzulassen, läßt Levy sie immer tiefer fallen, läßt lügen und zurücklügen, drohen und weinen, läßt sogar vergewaltigen, läßt sie verzweifelt durch die Leitung nach Verbindendem suchen. Die wiederkehrende Frage „Bist du noch dran?“ wird zum letzten Hoffnungsschimmer.
Als der Regen in Paris endet und der Schneefall in Berlin und die Nacht einem trüben Morgen weicht, ist wenig geklärt, und nur Schlaf rettet die Protagonisten. Die nächste Runde des Schmerzes wird eingeläutet werden, nur so viel ist sicher. Thomas Winkler
„Stille Nacht“, BRD/Schweiz 1995, 84 Min., Regie: Dani Levy,
Heute, 12 Uhr, Royal Palast, 18.30 Urania, 22.30 Uhr International
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