: Immer mehr Junkies infizieren sich im Strafvollzug mit HIV und Hepatitis. Doch die Spritzenvergabe im Knast stellt die Justizminister auf eine harte Probe: Hardliner sprechen von der drogenpolitischen Bankrotterklärung, und Vollzugsbeamte wehren sich vehement dagegen. Drei Bundesländer starten jetzt halbherzige Modellversuche Von Sannah Koch
Politik der Nadelstiche
Wäre es nicht so lächerlich, wäre es zum Lachen, das neueste Vorhaben des Hamburger Senats. Die Hansestadt will ab Mai diesen Jahres an Heroinabhängige im Knast sterile Einwegspritzen ausgeben lassen, verkündete Justizsenator Wolfgang Hoffmann-Riem am 9. Februar. Eigentlich ein gesundheitspolitisch vernünftiges und längst überfälliges Projekt.
Aber: Der Justizsenator wählt eine eigentümliche Realisierungsvariante. Er schlägt den Rat einer Hamburger Expertenkommission in den Wind, die 1995 nach monatelangen Beratungen gefordert hatte, mit der Spritzenvergabe müsse in Hamburgs Problemanstalt „Santa Fu“, der Anstalt für Langzeitgefangene, begonnen werden. Statt dessen startet Hoffmann-Riem im Mai mit der Spritzenausgabe im offenen Vollzug. „So was Dämliches habe ich noch nie gehört“, stöhnte ein Hamburger Kommissionsmitglied. „Diese Knackies können sich ihre Pumpen wahrlich problemlos draußen besorgen.“
Etwas mehr Mut, so hatte es noch im vergangenen Herbst den Anschein, wollte Niedersachsens Jusitzministerin Heidi Alm-Merk (SPD) beweisen. Sie kündigte im Oktober an, sie werde im Januar 1996 Spritzenautomaten in der Frauenvollzugsanstalt Vechta installieren lassen. Zwar haben die geplanten wissenschaftlichen Vorerhebungen, ärztliche Untersuchungen der Gefangenen, im Januar begonnen, doch erst nach deren Abschluß werden Ende März die Automaten aufgehängt – und nur, so räumt die Pressestelle des Justizministeriums nun ein, in einer Abteilung der Anstalt – „damit wir nicht in den Geruch kommen, nichtdrogengefährdete Personen zu verführen“. Auch dieses „Modellprojekt“ ist, wie das Hamburger Vorhaben, auf knapp zwei Jahre befristet.
Zu den beiden norddeutschen Ländern gesellt sich auf der Ebene der Absichtserklärung auch Berlin hinzu: Justizsenatorin Lore Maria Peschel-Gutzeit (SPD) erklärte jüngst, sie wolle nach dem Umbau der Frauenhaftanstalt Lichtenberg dort den Spritzentausch in Erwägung ziehen.
Die Wankelmütigkeit dieser politischen Gehversuche wirft ein Schlaglicht auf die Zwickmühle, in der die JustizpolitikerInnen der Länder stecken: Einerseits zwingt sie die brodelnde Mixtur aus Drogenelend und Gewalt hinter Gittern zu unverzüglichem Handeln, auf der anderen Seite blockieren die deutschen Vollzugsbeamten jeglichen Ansatz liberaler Drogenpolitik im Knast. Und an den Bediensteten führt kein Weg vorbei. Dabei kulminiert der Machtkampf immer häufiger in der Spritzenfrage; an dem heißen Eisen hat sich schon mancher Justizminister die Finger verbrannt.
Zum Beispiel in Hamburg, das Vorreiter spielen wollte. Auslöser war im Januar 1994 der Mord an dem Strafgefangenen Dieter Janik, den Mithäftlinge in seiner Zelle in „Santa Fu“ umgebracht hatten. Laut Ansicht der Insassenvertretung war dies ein Mord wegen Drogenschulden; eine Tat, die Ergebnis einer „schlampigen und völlig verfehlten“ Drogenpolitik im Strafvollzug sei, wie die Insassen kritisieren.
Der damals frischgebackene Justizsenator Klaus Hardraht (Statt Partei) nahm es sich zu Herzen und verkündete einige Monate später, er wolle die Drogenhilfe im Vollzug ausweiten. Auch die Vergabe steriler Einwegspritzen versprach er. Doch kaum hatte der Senator dies verkündet, stellte der Hamburger Justizapparat auf stur: Die Gewerkschaft der Vollzugsbeamten kündigte unverzüglich einen Boykott an. Die Bediensteten würden in einen unlösbaren Zwiespalt zwischen Drogenverbot einerseits und der Erleichterung des Konsums andererseits geraten. Auch fürchteten sie, die Spritzen könnten als Waffen gegen sie verwendet werden. Man werde deswegen dafür sorgen, daß die Automaten einfach immer leer sind, hatte der Hamburger Gewerkschaftschef Wolfhard Ploog damals unverhohlen gedroht (siehe auch Interview). Hardraht machte einen Rückzieher und legte das Thema auf Eis.
„Wir wollen nicht dasselbe Desaster erleben wie der Hamburger Senator“, erklärt die Pressesprecherin im Hessischen Justizministerium, Claudia Weisbart, die bisherige Zurückhaltung des grünen Justizministers Rupert von Plottnitz. Seine Partei fordert seit langem vehement den Spritzentausch im Vollzug. Dem möchte von Plottnitz angeblich gerne nachkommen, doch auch er scheut den Konflikt mit den Beamten im Vollzug. „Wir arbeiten noch daran, aber gegen den Willen der Bediensteten werden wir nichts durchsetzen“, versucht Claudia Weisbart kritische Stimmen in Schach zu halten.
Der Streit um die sterilen Spritzen verläuft aber auch quer durch die Parteien. So demonstrieren die SPD-PolitikerInnen in Hamburg und Niedersachsen Offenheit, die GenossInnen im Saarland und inNordrhein-Westfalen dagegen unerschütterlich Ablehnung. Überraschend befürwortete dagegen der als drogenpolitischer Hardliner bekannte Bundesdrogenbeauftragte und CSU-Politiker Eduard Lintner den Spritzentausch im Vollzug, „weil die Vorbeugung gegen lebensbedrohliche Infektionen dort höher zu bewerten ist, als der notwendige Kampf gegen die Droge“. Seine Gesinnungsgenossen von CDU und CSU bleiben unterdessen ihrer Verteufelungsstrategie treu; für sie ist die Spritzenvergabe schlicht eine „Bankrotterklärung der Drogenpolitik“.
Dabei stehen dem Hilfsangebot schon lange keine juristischen Hürden mehr entgegen. Die Spritzenvergabe gilt bereits seit 1992 nicht mehr als „Verschaffen einer Gelegenheit zum Drogenkonsum“ und ist außerhalb der Anstalten schon alltägliche Drogenhilfepraxis. Von solchen Ansätzen liberaler Drogenpolitik blieb der deutsche Strafvollzug hingegen bislang weitgehend verschont. Dort wuchs das Drogenelend in den vergangenen Jahren bedrohlich an: Rund 20.000 heroinabhängige Männer und Frauen, so die Schätzungen des Bundesjustizministeriums, bevölkern derzeit jährlich bundesdeutsche Strafvollzugsanstalten – jeder vierte männliche und jede dritte weibliche Gefangene der insgesamt 64.000 Häftlinge gilt inzwischen als drogenabhängig. In Untersuchungsgefängnissen überschreitet ihr Anteil meist sogar die 50-Prozent-Marke.
So herrscht in den Knästen zwar an Drogen selten Mangel, wohl aber an sauberen Spritzbestecken. Das „Needle-sharing“, die gemeinsame Verwendung der Pumpen, ist die Regel. Folge: Rund ein Fünftel der drogenabhängigen Häftlinge sind mittlerweile HIV-infiziert. Eine Untersuchung des Sozialpädagogischen Instituts in Berlin belegt zudem, wie hoch das Risiko für Fixer ist, sich im Strafvollzug mit HIV zu infizieren: Danach waren 32 Prozent der Junkies mit Knastkarrieren HIV-positiv, von denen, die nie in Haft waren, nur etwa 13 Prozent.
Noch weit größer ist jedoch das Risiko, durch Needle-sharing an Hepatitis zu erkranken. Zwischen 70 und 90 Prozent der Heroinabhängigen in bundesdeutschen Knästen haben bereits das Gelbsucht-Virus; dabei können vor allem Hepatitis B und C in tödlichem Leberversagen enden. Deshalb empfahl auch die Aids-Enquête- Kommission des Bundestages bereits 1990, Gefangenen sterile Spritzbestecke zur Verfügung zu stellen. Wozu die Justizminister qua Strafvollzugsgesetz (StVG) ohnehin verpflichtet wären: „Schädlichen Folgen des Freiheitsentzugs ist entgegenzuwirken“, schreibt Paragraph 3 des StVG nämlich vor.
Kein Grund jedoch für die Vollzugsbeamten, von ihrer ablehnenden Haltung Abstand zu nehmen. Wie tief ihre Ressentiments sind, belegt auch eine Umfrage, die Berlins Justizsenatsamt im Dezember 1994 durchführte. Von den 1.170 befragten Vollzugsbediensteten lehnten 81,4 Prozent die Ausgabe von Spritzen im Vollzug kategorisch ab. Drei Viertel der Beamten sahen in einer Spritzenvergabe ein Signal für die Freigabe von Drogen.
Die Schweiz fand für dieses Problem eine praktikable Lösung. Auch dort reagierten die Vollzugsbeamten mit Vorbehalten auf die Pläne des Bundesamts für Gesundheitswesen (BGA), in einer Anstalt die Spritzenvergabe zu erproben. Deswegen setzte das BGA im Juni 94 mit Beginn des ersten Spritzentauschprogramms in der Frauenhaftanstalt Hindelbank, Bern, kurzerhand ein eigenes Projektteam für die Verteilung ein, um die Beamten möglichst wenig mit dem Problem zu konfrontieren.
Das Resümee der Schweizer fiel nach den ersten zehn Monaten durchweg positiv aus. Die Ängste der Bediensteten, Insassen könnten die Spritzen gegen sie richten, hätten sich in keinem Fall bewahrheitet, versicherte der stellvertretende Direktor der Vollzugsanstalt Hindelbank, Martin Lachat. Auch seien in der Anstalt weder Neuansteckungen mit HIV oder Hepatitis, noch eine Zunahme des Drogenkonsums festgestellt worden. Das Fortbildungsprogramm für Vollzugsbeamte war relativ schlicht: „Die mußten halt lernen, Drogen weiterhin zu konfiszieren, die Spritzen aber liegen zu lassen“, so Lachats lapidarer Kommentar.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen